Mein lila Onkel - die zweite

Mein lila Onkel - die erste

Ich habe so viel vergessen. Vielleicht wusste ich es nie. Manches taucht wieder auf, vieles muss neu erfunden werden.

Mein lila Onkel fand irgendwann eine Frau. Sie wohnte am Meer. Das Meer existierte bislang nur in seinem Kopf. Er hatte es noch nie gesehen, aber von ihm geträumt. Er hatte das Meer im Rauschen der Tannen gehört. Der Geruch der salzigen See hockte schon in seinen Nasenflügeln, bevor er seine zukünftige Frau kennen lernte.

Es war eine schwere Zeit damals. Der Krieg war gerade vorbei, alles war zerstört, auch die große Hafenstadt, in der seine Liebste aufgewachsen war. Die Bomben waren gefallen wie ein dichter, dunkler Regen. Sie hatten in den Herzen tiefe Krater hinterlassen und die Häuser bis aufs Gerippe zerfetzt.

Mein Onkel war ein fränkisches Landei. Er kam aus einem Dorf in einer Landschaft, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht wünschen. Der Wald umzingelte das Dorf. Morgens um fünf war dort die schönste Zeit. Da kochten die Hasen Kaffee. Es war wie frühes Kino. Der Dunst stieg drüben am Berg zwischen den  Tannen hoch bis über die Wipfel. Dort waberte er noch, wenn die letzten Dörfler endlich aufwachten. Während sie sich den Schlaf aus den Augen rieben und ihren Kaffee brühten, wanderte ihr Blick durchs Fenster hinüber in den Wald und verschleierte sich. Der milchige Dunst erinnerte an den Herbst, selbst wenn es mitten im Sommer war. Wenn man das Fenster öffnete, hörte man das Krächzen der Krähen.

Das Wasser aus der Leitung war kühl und süß und weich. Es war das beste Wasser weit und breit. Es machte die Kinder munter, die Haut der Frauen glatt wie sündhaft teure Seide und die Männer wieder nüchtern.

Die Bomber hatten diesen Ort übersehen. Er war nur ein winziger Fliegenschiss auf der Landkarte, keinesfalls ein strategisch wichtiges Kreuz auf ihrem Plan. Aber der Krieg war trotzdem nicht spurlos vorbei gegangen. Er hatte die Söhne geholt, wenn sie nicht freiwillig kamen. Viele kamen nie mehr zurück. Mein Onkel war ein Sohn wie alle andern. Es half nichts, dass sein Gesicht zur Hälfte lila war. Das Aussehen war dem Krieg egal. Er drückte jedem Mann ein Gewehr in die Hand und befahl ihm zu schießen. Vermutlich hat mein Onkel geschossen. Ob er getroffen oder absichtlich daneben gezielt hat, weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass er nicht mehr unversehrt war als er zurück kam.

Obwohl am Rand der Welt gelegen war der Ort nicht ganz aus der Welt, und die Bewohner waren nicht ohne Schuld. Unschuldig sind nur die Tiere.  Der Fuchs hat keine Schuld, wenn er den Hasen frisst, statt ihm gute Nacht zu wünschen.

So ist das.

foto: katrin schäflein www.picturepilot.de