wiewollenwirleben



fielen die sterne
weil wir nach ihnen griffen?

wiewollenwirleben

genügt es
die schürze auszubreiten
die sterne aufzufangen?

4. advent




morgens schon
donald trumps stimme
im radio

da kommt mir
nichts mehr in den sinn
was auch nur entfernt
an weihnachten
erinnert

außer
der kleine junge
versunken ins spiel mit
seinen zinnsoldaten
und das ende vom lied

eine kopflose truppe











glauben


in der erde
in den wurzeln im stamm
in den ästen im blatt
ist sie

ich sage nicht:
bist Du
denn an ein Du
kann ich nicht mehr glauben

Du bist mir
verloren gegangen
hast dich davon gemacht
heimlich und leise
wie ein dieb

geblieben ist
unzähmbare energie
pures leben
ohne Du

tagebuchnotiz

winterhart
dieser graue tag

der körper will
sie gar nicht glauben
diese kälte

er reagiert
verschnupft
wer wollte es ihm
verdenken

9.11.

novemberkind bin ich / gezeugt
im ausgehenden winter / geboren
in jenem grauen monat / der
weißer zeit / vorausgeht
geschichtsträchtig
schattenbehaftet
flammenumzüngelt
zu scherben / geschlagen
das datum meiner geburt / belastet
von alter schuld / und doch
mauern überwindend / im aufbruch
neue hoffnung / schaffend
freiheit kündend / wandernd
zwischen zwei  polen
der geschichte
bin ich

9. november

kein anschluss unter dieser nummer

ich verschiebe mich
einfach
aufs nächste leben

dann werde ich
aus dem off 
als ton einer cello-saite
kontakt aufnehmen 
  oder
einfach vor deiner haustür
warten
runderneuert
als regenwurm


zoe keating - nach einem langen tag

farblos
tönernes einerlei
seelenschlurfende
gedankenwäsche
eine geschlagene saite lang
ruhen
in der allumfassend
seufzenden
klangwüste


zoe keating

Mutter sagte

Mutter sagte:
Alles wird gut

Und alles ward gut
Irgendwann

.

ein moment
mit mir allein
leise
klopfen zeilen an

.

nachtdichtung

wenn eine alleinschläferin
nachts wach liegt
und keinen beischläfer stört wenn
sie aufsteht
und bei kerzenlicht kritzelt
(vielleicht in der provence oder
im schottischen hochland -
nicht in vaihingen das
wäre zu banal)
dann entsteht dichtes das sich
zu einer dichtung verdichtet die
das gegenteil einer taghellen
lichtung ist

vielleicht kommt es sogar
zu einem gedicht

herbstlich

wenn die nacht wieder fällt
draußen
atmet es herbstlicht

und morgens die dämmrige kühle
der leeren straße
die langsam erwachende stille
geweckt vom
quietschenden auto des
zeitungsmanns
rasche schritte die
nicht mehr ganz taufrische
nachrichten liefern
frei haus

du denkst
dass es bald wieder lebkuchen
geben wird







Fahrradgeschichten

Gibt es eigentlich Schutzengel, die für Fahrräder zuständig sind? Die aufpassen, dass ein Rad nicht geklaut oder - noch schlimmer - verlassen wird? Ein Rad verlassen ist fast so schlimm wie ein Huhn aussetzen!  

Jeden Morgen fahre ich an einem Rad vorbei, dass schon den zweiten Herbst an einen Laternenmast gekettet, von Gott und der Welt verlassen, vor sich hin vegetiert. Jede Jahreszeit hinterlässt Spuren. Der Frühling den Blütenstaub, der Sommer die Wärme im Sattel, der Herbst braune Blätter im Korb, der Winter den Schnee auf den Blättern im Korb. Die Blätter vom letzten Herbst hat jemand aus dem Korb entfernt. Ich frage mich: wer? 
Bald werden neue Blätter im Korb liegen. Der Herbst ist nicht mehr weit. Dann wird wieder Schnee fallen – der bald Schnee von gestern sein wird. 
Irgendwie habe ich den Verdacht, dass das Rad in den letzten Wochen von einem Mast zum nächsten gewandert ist. Nur wie?  
Erstaunlich, dass es noch nicht demoliert ist. Demoliert - ein tolles Wort! Alles ist noch dran, nichts fehlt, nichts ist verbogen oder verbeult. Nur ein bisschen verheult und verrostet sieht es aus, das Rad, so ganz allein immer am selben Fleck. 

Und es gibt noch einen anderen Fall. An einem Laternenmast am Feuersee, ausgesetzt und angekettet seit Wochen. Den Besitzer habe ich sogar gesehen. Er besuchte jeden Morgen eine Obdachlose, die auf dem Grünstreifen zwischen Straße und See ihr Camp aufgeschlagen hatte. Morgens kroch sie aus dem Schlafsack, der Mann kam angeradelt, die beiden saßen am See, unterhielten sich, stritten sich, schauten auf den See. Ab und zu kam die Polizei vorbei. Jeden Tag das Gleiche.  Dann war plötzlich die Frau weg, das Camp weg, der Mann weg. Nur das Rad steht noch da, seit Wochen festgekettet, und kann nicht weg.

Und das sind nicht die einzigen Radgeschichten. Es gibt noch mehr!

Da war einmal ein Rad mit einem Betonblock auf dem Sattel. Warum?

Und es gab ein rädernes Brautpaar. Das habe ich fotografiert. Aber die Fotos und die Räder sind verschwunden. 

Und immer muss ich mir Geschichten ausdenken, Radgeschichte oder Radgeschichten. Weil ein verlassenes Rad mein Kopfkino automatisch in Gang setzt. 

Zum Schluss noch zwei, denen es richtig gut geht. Auch das gibt es!


 



.
im letzten aufbäumen
des sommers schnell noch
drei sonnenblumen gepflückt
.

das kleine gepäck

ich trage
immer noch
mein kleines gepäck

eigentlich
- so dachte ich -
käme es irgendwann
zum upgrade
auf ein gewichtigeres
oder ich könnte es
abwerfen
und frei sein

ich trage
immer noch
mein kleines gepäck
mit mir



geduld (sommerregen)

du kannst den regen nicht
herbei zaubern

er fällt
wann er will
wo er will

oder er fällt nicht
ganz wie er will

mondfinsternis

ich hab den mond gesehn
er sah anders aus
nicht so freundlich
wie üblich
eher verfinstert
irgendwie zornig

was er wohl hatte?

der hase im mond
war auch nicht da

komisch!
der mond so ganz allein
ohne hase

nur unten
da war ein lichter punkt
hell glänzend
der zog mit
über den himmel
immer hinterher

eine neue verehrerin?
vielleicht

sommerloch


eine zauberhafte lücke
in den rosa abendwolken
in den grauen hirnwindungen
im lärmenden verkehrsfluss
im öden fernsehprogramm

leicht zu füllen mit allerlei
nonsens
oder einfach sein
und lassen


spatz


spatz nimmt platz


spatz findet schatz


spatz guckt


spatz schluckt


spatz schmatzt





eigensinnige eigenbrötlerei

der eigenbrötler
bäckt sein eigenes brot
im morgenrot
und isst es dann
im abendrot
allein zum abendbrot

weil es dich gibt

weil ich weiß
dass es dich gibt
bin ich gern allein

die drei finken
im wipfel der fichte
zwitschern ihren gruß
eine schwadron schwalben jagt
über den abendhimmel
aus dem nichts
wird bald
die kleine fledermaus
auftauchen
wie durch radar gesteuert
wird sie ihre bahnen ziehen
in der dämmerung

die weißen nächte
von st. petersburg
sind weit
hier fallen letzte sonnenstrahlen
auf die giebel
es wird allmählich dunkel
und ich werde mich
in deine decke hüllen
zur nacht

sommerabend

alles ist gepflanzt
neue körner im vogelhaus
das trio im radio
groovt sich allmählich ein -
du kannst kommen

der abendhimmel
leicht rosa angehaucht
verspricht einen schönen tag

die amsel


wenn die amsel am abend singt
ist alles gut
warum sollte sie sonst singen




knoten

wenn sich ein knoten löst
gibt es zwei enden die
endlich frei sind oder neu
zusammen finden

tagebuchnotiz

wenn es endlich geregnet hat
ist die luft schwer
alles liegt in der luft
die luft ist eine einzige lust
eine lust auf noch mehr

was will ich mehr?

was will ich mehr?
die wolken und der wind
das wasser und der wein
die sind doch da
weib bin ich selbst
ein wiesel brauch ich nicht
auch keinen reim
und manchmal weinen
das muss einfach sein
das wesentliche ist
dass mich im winter
einer wärmt und dass
im wonnemonat mai
die wiesen wieder blühn
wie jedes jahr
so muss das sein





schade um die alternden dichter

schade um
die alternden dichter
ihr sternenstaub
verwandelt sich
irgendwann
zu erde
von den dichterinnen
ganz zu schweigen
auch sie sind
endlich

... und schön, sie noch - vielleicht ein letztes mal - zu sehen und zu hören. 
danke an hans magnus enzensberger und franui, gestern abend im schloss ludwigsburg.
und noch nachträglich ein dank an peter härtling, 2015 gehört in der stadtbibliothek stuttgart. 


du warst doch eben

du warst doch eben
noch da
der wind spielte
in den zweigen

jetzt neigen die blumen
ihre köpfe
die nacht fällt
durch den schornstein
und die worte
rollen sich zusammen
ganz klein

eben warst du
noch da





tagebuchnotiz


ein tag
sonnengereift
wie eine frucht
.
der mond
am firmament
freundlich
.
was willst du
mehr?


etwas über gott

*gott wäscht seinen schoß im meer
nach einem tag voller liebe*

gott wusch seinen schoß im meer
ich sah ihn und
werde mich ewig erinnern
wie die gischt im sonnenlicht
glitzerte
wie es schäumte und wallte und dann
behäbig über den ufersand kroch
und wie gott hinaus schwamm
nachdem er sich gereinigt hatte
mit langen zügen
aufs endlose meer hinaus
dem horizont entgegen
und wie er endlich weit draußen
im dunst verschwand

* so oder ähnlich gehört heute morgen im radio
in einer sendung über spirituelle lyrik

tagebuchnotiz - 2. april

heute einem gemetzel beigewohnt
schauplatz: nachbars garten
es hieß der kirschbaum sei hohl
[hohl wie die köpfe der beiden
die ihn fällen]
ist ja nur ein baum
sagst du
bäume sind freiwild
außerdem bluten sie nicht
sagst du
von wegen! denke ich
und verlasse nach einem kurzen wortgefecht
mit den dilettierenden schlächtern
den balkon

bäume bluten 
sie schreien und
keiner hört sie

das wurde mit meinem herzblut geschrieben

er ist's

er ist's
nein nicht der
den du meinst
er ist's
der aprilregen

und der da sein sollte
der der der ...
schickt erstmal nur
kleine gelbe kroküsse
als vorhut

tagebuchnotiz übers schreiben

gestern nacht kam mir die idee
zu einem text
ich war mir sicher dass sie gut war
dass sie überleben würde
bis zum morgen
als ich aufwachte war sie verblasst
nur leere hülle
sie hatte nicht einmal die fülle
eines geistes der
einem nachgeht noch im tag






kein haiku

über drei zeilen
komme ich nicht hinaus
mehr scheint mir

zu viel




tagebuchnotiz

man könnte den himmel
für ein graues laken halten
für eine zu dicke decke
oder für ein fast undurchlässiges
lichtsieb
dabei könnte er so viel
mehr sein
eine weide für schäfchen
zum beispiel
ein blaues meer
ein lichtblick
ein sehnsuchtsort
ein weites feld
ein bote
der besseren tagen


dorfchronik IV

erzählen vom
widerständigen denken und tun
am letzten tag des letzten kriegs

ob es wohl vorher
schon widerständig war
oder erst am letzten tag des letzten kriegs
diese freiheit erfand?

dorfchronik III

mannsbilder  -
die frauen nur staffage
im ehrenjungfernkleid

dorfchronik II

im porträt von großvater
mein bruder wie er leibt und lebt

dorfchronik I

längst verflossene tage
festgehalten
auf vergilbtem papier

tagebuchnotiz

ein butterbrot genügt
wenn ich weiß
dass im kühlschrank noch wurst ist


ein gedanke nur

alt werden
verschwinden
im zeitlosen

ein gedanke nur

die gefühle wollen
jung bleiben
auf teufel komm raus
eine veränderung
im aussehen
vielleicht
farbe im haar
und neue knospen
was auch immer
du dir vorstellst
ein lächeln oder
rot geschminkte lippen
es liegt in dir
ob du neue gedanken
denkst
aus der spur
treibst und
vom rechten weg
abkommst
lang gehegte pläne
verwirfst oder
sie verwirklichst

deine wunder stehen
lang schon geschrieben
du weißt es
nur noch nicht




straßenkopfkinogedicht

ungerührt und unberührt
steht es seit monaten
an einen baum gekettet
im korb noch
die blätter vom letzten herbst
seit gestern
eine schneehaube auf dem sattel

im vorbeifahren
nehme ich mir vor
ein foto zu machen
immer wieder
ein foto zu machen
durch alle jahreszeiten
bei jedem wetter

festzuhalten
was passiert wenn
keine zuwendung
keine berührung
keine bewegung
kein anspruch
mehr stattfindet

sommer herbst und winter
sind vergangen
ohne ein bild
der frühling kommt bald
noch sind die reifen
ganz leicht
mit luft befüllt

angeregt durch Beatrix Brockman




petersilie

eben habe ich gelernt
dass petersilie eine blume
der liebe ist

das hat mich schlicht
berührt

und ich möchte dir gern
einen strauß
petersilie schenken

als zeichen
meiner einfachen zuneigung

(ein schnittlauch hat sich 
hinein gestohlen)

tagebuchnotiz

den tag links liegen lassen
und auf den abend warten

die schönen wörter


und wieder
die schönen wörter
vergeigt


tagebuchnotiz

warten ist das erste
und das letzte
warten auf das licht der welt
warten auf das verlöschen

warten

immer wieder auf das leben
und dass dich etwas packt
und mit dir tanzt
oder dich tanzen lässt
nach seiner pfeife

Ich habe mich so vergangen und will gefunden werden, wo ich am liebsten wär.
(Martin Walser: Statt etwas oder Der letzte Rank)

mehr gibt es nicht
zu sagen
am ende
eines gelebten  lebens


januar


raben schwarz
unterm sonnenloch
ein gefallener hochsitz

und der wolf?

rotkäppchen ist alt
der wein getrunken
der jäger in den ewigen
jagdgründen verschollen
und die großmutter
mumifiziert
nur das körbchen liegt noch
in meinem keller

der wolf
was sucht er hier?


phantomschmerz

irgendwann
hab ich die sehnsucht verloren
wie einen ausgeleierten schuh

wer bin ich
ohne sehnsucht?

kann auch sein
meine sehnsucht hat ihr ziel verloren
ist nur noch sie selbst
gegenstandslos
wohnt weiter in mir
schmerzt immer noch
als hätte sie ein ziel

ich sehne mich nach etwas
nach dem ich mich sehnen könnte





tagebuchnotiz

in mir wohnen
kann ich nur wenn
ausgekehrt ist

ich kehre ein
um auszukehren

tagebuchnotiz

ein dichter denkt
schreibend
über sich nach
sprachgewaltig
allumfassend
und führt dich dabei
dir selbst vor

(zu Martin Walser: Statt etwas  oder Der letzte Rank)


tagebuchnotiz

diese lange weile
die plötzlich im zimmer
steht
hervorgerufen von worten
eines bekannten dichters
köstlich
ich staune und horche
der süße des letzten lebkuchens
in meinem mundraum
nach

gehe nicht über los


wenn ein jahr neu anfängt
bewegt sich alles wie von selbst

die verfallsdaten
eilen weiter ihrem ende entgegen
und ein haar ist grau

geworden von ganz allein

auch der wind braucht dich nicht
um zu wehen

lehn dich einfach hinein




tagebuchnotiz

tag eins im neuen jahr
erfolgreich
gestrandet