besenrein

Tür auf – da sind sie. Huschen unterm Schrank hervor, rollen und wallen in die Küche, wallfahrten ins Wohnzimmer.  Wölkchen, die auf dem Boden wallen, Flusentiere, Wollmäuse.

Der Besen schwingt. Flinkfüßig flüchten, tanzen, hasten sie, zurück in die Ecken, unter den Schrank, unters Bett. Dort ist sackdunkel ihr Nest. Aber dann, dann …  hängen sie doch fest in bösen Besenborsten, vollkommen am Boden zerstört.

Der Besen klammert. Grausam spitzfindige Menschenfinger zupfen, reißen, raufen.
Hinein in den schwäbischen Kuttereimer mit ihnen.

Besenrein, so nennt man das.

Ab ins neue Jahr!

die gemeine Wollmaus


der Engelsflügel

die Liebesbriefe der Eltern
hat das Kind nie gelesen

es muss sie gegeben haben
diese Briefe
im Krieg und danach
wurden sie sicher geschrieben
fein säuberlich mit der Hand
manchmal ein Tintenklecks
selten etwas durchgestrichen
sie wurden sicher geschrieben
gefaltet in einen Umschlag gesteckt
frankiert losgeschickt
auf unsicheren Wegen
eine fragile Brücke
zwischen zwei die getrennt waren
gegen ihren Willen
bis endlich die Weltlage
sie wieder zusammen brachte

manchmal später
streifte ein Engel vorüber
sein Flügel streifte flüchtig das Kind
eine Ahnung dieser frühen Liebe
die existiert hatte
mitten im Krieg
trotz des Krieges
vielleicht sogar
gerade weil Krieg war
damit man heil blieb
damit es einen Halt gab eine Hoffnung
einen Trost eine Zukunft
mitten im Chaos

manchmal streifte
ein Flügel das Kind


Stille


Stille Nacht (heilige Nacht?)

Stille Wasser sind tief (oder seicht)

Stillschweigend ist doppelbödig

Still gestanden!!!




Mucksmäuschenstill lässt aufhorchen
Mäuschenstill hat im Moment aufgehört zu rascheln

Auf dem stillen Örtchen kommt jeder
mit sich ins Reine (hoffentlich)

Stillen als erotischer Akt
oder so:

Still, still, still,
weil's Kindlein schlafen will!
Maria tut es niedersingen,
ihre keusche Brust darbringen.
Still, still, still,
weil's Kindlein schlafen will!




Bild "Stille": www.picturepilot.de





Eine froh stillende Nacht wünsche ich allen Leserinnen und Lesern!













Die Lactatio des St. Pedro Nolasco (Detail), ca. 1663, Kloster La Merced in Cuzco/Peru

Im Dezember im Regen am Feuersee

An den breiten Füßen Badeschlappen, blau-weißer Kunststoff, schwarze Wollsocken. Darüber der fast bodenlange braune Mantel, darunter der unförmig sich abzeichnende Frauenkörper. Oben drauf das breite Gesicht, heller Vollmond unterm dunklen Kopftuch, nicht mehr jung, noch nicht alt. Ganzkörper-verhüllt, bis auf die Füße in Badeschlappen.

[Regen. Grau. Immer noch grüne Weiden am See.]

Im Schlepptau ein roter Einkaufswagen. Gang eher schwerfällig. Blick gesenkt oder gerade so auf Papierkorbhöhe. Nicht besonders zielgerichtet, mehr schweifend. Zeit satt.

[Zu Hause ist's auch nicht schön, nur trocken]

Vor sich hin, so. Unbestimmt. Stehen bleiben, gehen, ziehen, rollen, stocken, Blick auf den See, weiter, stocken, Augen in den Papierkorb, Hand hinterher, stochern, leere Hand raus, Augen zurückrufen, hoch, weiter.

Eine unter vielen. Langsam. Stetig. Unscheinbar. Unsichtbar.
Irgendwann außer Sicht.

*
Wer weglaufen will, dem wird ein Bein gestellt, wer denkt, dem wird der Kopf geschoren (Andrea Köhler über die Lyrik von Herta Müller).


. / . _ .


getrennte wege  -
der himmel voll
verstimmter geigen
.

zwei
gemeinsam 
einsam
.

ich du wir
eine ganze bande

vom Aufräumen und Austräumen

vom Aufräumen und Austräumen
wollte ich schreiben

schön sei's
aufgeräumt und ausgeträumt zu haben
das wollte ich schreiben

doch die Worte
fügten sich anders


nicht schön wär's
die Träume nicht mehr
um sich zu haben sie alle
seziert sie
analysiert sie wieder
zugenäht zu haben
sie zusammengefaltet und
verschnürt zu haben
mit blauen Bändern
sie platzsparend
verstaut zu haben sie
in hintersten Schubladen fast
vergessen zu haben

                                                                        f             b en         ~
nein                           ie       t  a  u          ~ ~
nicht schön wär's
                                                r
Träume sind                                          B


herzförmig

99 rote Luftballons auf grauem Wolkenstoff

eine zerrissene Liebeskette

deren Perlen in alle Richtungen davon

t     m      

au       el

     n


Botschaft kündend

?
       ?
   ?



Unruh

Die letzte fette Mücke surrt sich drinnen dumm an der Fensterscheibe. Während draußen der Wind an den Läden rüttelt. Die Mücke scheißt die Scheibe voll mit Verzweiflung. Der Wind kann nicht aufhören, kann nicht aufhören ... gibt keine Ruh. Die Mücke hängt irgendwo fest. Ihr Surren verzerrt. Der Wind steigert sich auch hinein. In was? Hat er Gefühle? Ist die Mücke dumm oder surrt sie sich nur dumm? Der wärmste Schal ist kaum warm genug. Durch die Löcher pfeift's. Pfeift der Wind, summt die fette Mücke. Den ärgsten Feind jag ich nicht mehr vors Haus heut. Auch nicht die fette Mücke. Sie darf bleiben bis der Wind, der Wind, das himmlische Kind endlich Ruh gibt.



Niklaus-Party

(c) Jeannette Frei, mit freundlicher Genehmigung

Die Lawine

unterschätze nie
das winzige Gefühl
es kann wachsen

klein wird zu groß
groß wird noch größer
aus größer wird mächtig
mächtig wird übermächtig

wer denkt dann noch daran
dass alles einmal
klein
angefangen hat

Aufwärmen

Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll, oder besser gesagt, mit welchem Teil von mir.

Mit den Füßen, dem Herz, dem Hirn? Die Füße sind eiskalt. Das Hirn, das raucht und will keine Ruh geben. Dazwischen das Herz, klein, steinhart und still. Am besten lehn ich's an den Kopf-Ofen zum Aufwärmen, damit es wieder zum Leben erwacht. Und den Kopf deckel ich, damit er nicht mehr so qualmt, sondern gemütlich bollert. Dann wird’s schon wieder. Wirst sehn! Sag ich zu mir und mach mich an die Arbeit. Schwarze Hände machen mir nichts aus. Ist wie früher, als man noch einen Holzofen hatte. Da steckte einfach ein bisschen Arbeit drin, wenn es gemütlich werden sollte. Manchmal hat's nicht gleich funktioniert. Der Funke war zu winzig oder die Flammen wurden zu groß. Aber dann irgendwann saß man am Ofen, die Füße an der warmen Ofenwand, und die Papierschlange drehte sich wie von Zauberhand bewegt in der Luftströmung über der Herdplatte.

He ihr – sag ich zu uns. He ihr– alles klar?
Alles klar, Babo, antworten wir drei. Endlich wieder zusammen warm.

06:30

heute Morgen
wurde die U-Bahn
überfallen

fünf Kontrolleure drangen
durch zwei Türen
in einen Wagen

auf je zwei Fahrgäste
kam ein Kontrolleur

die Fahrgäste waren
erschlagen

24. November

jetzt die erste Kerze anzünden
ist doch noch November
kommen viele dunkle Tage

letzte Rosen lassen
unendlich müd
den Kopf hängen
dauert noch der Winter
hat kaum begonnen

bei verriegelten Fenstern
der Stille lauschen dem feinen Geiger
der auftritt wenn keine Stimme
herein spielt kein Zwitschern
sein Nest baut im Haus

Weihnachten leuchtet
fast nah

sehr früh

Das Moped des Zeitungsboten
kreuzt heiser
einen Traum

Auf den Dächern
milchig
Nachtkrabs Hauch

Der Sattel
besoffen vom Nebeltau

Schatten lungern noch
auf dem Weg

Rechts vor links
vor links vor rechts
keiner wird gewinnen


so ein Glück

so ein Glück hab ich
es kribbelt mir in den Fingern
brennt mir unter den Nägeln
liegt mir auf der Zunge
krabbelt mir leichthin über die Haut
so ein Glück hab ich

nur manchmal haut's mich
zurück aus dem Glück
dann ist's mir
haltlos
kopflos
sinnlos
dann liegt's da drinnen bloß
und friert

bis ich wieder fühl
so ein Glück hab ich
so ein Glück
mit dir

aus allen Himmeln gefallen

ich trat auf seinen Schweif
es geschah ohne Absicht
er lag am Boden

er reagiert
mit einem matten Zwinkern
erst
dann immer heftiger
blinkt er mich an
in Rage  
wirft stroboskopisch Blitze
knüpft wild sein Netz um mich
zackt außer Rand und Band
droht 
zu verschlingen
aus Rache
wie ein alter Gott
ein alter Gott

über (m)ich

 (alles, was sowieso niemanden interessiert)

Der Boden ist meine Reibungsfläche. Ich trete gern in Kontakt mit ihm, und sei es durch Fallen.
Ausnahme: die Gehwege in Berlin. Dort lauern zu viele Tretminen.

Ich mag Haut: junge glatte weiche, zärtlich feine faltig alte ...

Ich hasse Parfüm. Es ist ein Kampfmittel. Schlagmichtot.

Mein Plan war, in Würde zu altern. Jetzt will ich lieber in Würde jung bleiben.

Mein Hirn ist ein Labyrinth, keine Einbahnstraße.

Ich stelle mir manchmal vor, richtig guten Käse zu verkaufen. Ich sehe mich hinter der Theke stehen und über alle möglichen und unmöglichen Käsesorten herrschen. Und wehe, mir liefe einer davon, weil er zu alt wäre!

Nachts um halb zwölf klopft einer an meine Tür (das ist kein Käse und es ist auch nicht nachts um halb eins). Ich mach ihm nicht auf, weil ich weiß, da ist keiner.

Im Mündlichen kriege ich immer eine 5, die ich nur durchs Schriftliche ausbügeln kann. Deswegen schreibe ich (lieber).

So sieht's aus!

Garda

Wolkendecke -
geschlossene Gesellschaft
überm See

.

selbstvergessen -
eine Kapelle hockt
oben am Berg

.

kurvenreich -
Hühner verlieren gackernd
die Orientierung

.

am griechischen* See -
Salve! 
grüßt der junge Römer


* griechisch deswegen, weil das Wasser so türkis ist wie die Kuppeln der griechischen Kirchen

satte Stille

das muntere Plätschern
der Spülmaschine
das letzte Aufbegehren
der Waschmaschine
das gleichmäßige Rauschen
der Dunstabzugshaube
leises Dudeln
des Küchenradios
buntes Stimmengemurmel
des Fernsehers
die Tinnitusgeige
im Ohr

Hilfsmaßnahmen
Notaggregate
Überlebenswerkzeuge
eingesetzt zur Vertreibung
der satten Stille

Heute schon gerollt?


In meinem Leben gibt es drei lange Rolltreppen.  Sie rollen aus der Unterwelt der städtischen Verkehrsverhinderungsbetriebe (kurz VVS) hoch ins Tageslicht. Wenn sie rollen. Meistens rollen sie nicht. Oder eine rollt nicht. Oder zwei rollen nicht, nur eine. Oder nur die letzte, oberste rollt nicht. Das bedeutet:  zwei lange Treppen wieder hinabsteigen, einen ewig langen Bahnsteig wieder entlang gehen bis zu einem Aufzug auf der anderen Seite, der auch nicht aufzieht. Oder doch. Man weiß nie.
Ich bin ja Gott-sei-Dank noch gut zu Fuß. Aber, was machen die anderen? Die Alten, die Fußkranken, die mit dem Herzschrittmacher, die Kleinkindträgerinnen, die Lidl-Besucher, die Maulwürfe?
Die Maulwürfe, das ist mal klar, die freuen sich. Die sind froh, dass sie endlich wieder Arbeit haben. Sie buddeln einen Kamin senkrecht nach oben,  reiben sich dann die Augen klar und linsen geblendet in die Sonne. Ha!
Tja - ich bin kein Maulwurf, sondern gehöre zur Gattung der Sonnenanbeter.
Mein Leben ist spannend. Jeden Tag was Neues. Immer flexibel bleiben. Den Rolltreppen ein Eigenleben zugestehen. Die, die zufällig rollt, anerkennend streicheln. Die anderen links oder rechts liegen lassen.

Bergsee

der See ruht glatt
ist ungerührt
ist nicht verspielt

spiegelt grün
den wolkenlos blauen
Himmel liegt regungslos grau
an düsteren Tagen hockt
manchmal fast
ausgetrocknet auf dem Grund
von weißen Kieseln

die rund sind nicht flach
nicht geschliffen von uralter Zeit
nicht  fröhlich hüpfen
über die spiegelnde Oberfläche
die immer gleich sind glatt
rund weiß
altersloser Grund

kein Kinderspiel
dieser See


An das Ungeliebte

Liebes Ungeliebtes,

ich mach dich zu meinem
weil du mein bist

selbst wenn wir uns nicht schätzen
gehören wir doch zusammen
und sind zusammen liebenswert

du bist meine Schieflage
mein schwarzes Loch
mein kleines Blackout
mein Holpern und mein Stolpern
meine Fallsucht
mein Mondflug
der dunkle Fleck
auf meinem Herzen
mein gemeines Unkraut

du bist immergrün
auf dich ist einfach Verlass!

 

am See


















 
 
Du baust Berge vor mir auf
himmelhoch türmt sich
was wir bestaunen müssen

Doch dann bricht Sonne durch
und die starren Felsen geraten
ins Wanken

Die Wellen des Sees
säumen geruhsam die Stunden
und wiegen den vollen Mond
Herbst
.

ich beiße in den Apfel
den ich dir reichte, damals
im Garten Eden

.

Unruh'

Ein kleines L hat mir gefehlt im alten Setzkasten, ganz zum Schluss. So ist manches unvollkommen, und man muss mit kleinen Fehlern leben.

nicht dein tag

wahllos setzt du
worte ans ende des tages
vorm fenster mauert dunkel
im radio die musik
verschlossen wolkig stimmen
aus einer fern drängenden welt
im ohr hockst du
mit dir allein

herbstzeitlos

heut'
triebe ich gern
in den Wind
hinaus
zu den raschelnden
Herbstblättern
wäre ein weinrotes
Blatt das sich löste
langsam zur Erde
taumelte
selbstvergessen
einfach so

eine Hand hielte mich auf
kurz vor dem Boden
hielte mich auf
einfach so

trüge mich
hoch in den Wind
zurück
und alles begänne
von vorn
wie ein Spiel
ohne Winter
herbstzeitlos


Zufall

heute morgen in der Bahn
setzte sich eine zierliche Frau
mit einer großen geraden
wie aus Marmor fein gemeiselten Nase
neben einen Mann
der Zeitung las und
eine ebenso große gerade
fein gemeiselte Nase
mitten im Gesicht trug

ich wartete darauf
dass sie sich mit Namen begrüßten
wie Geschwister oder gute Freunde
dass sie sich umarmten
oder die Nasen aneinander rieben
wie Geliebte, die sich treffen

ich fand es eine einmalige
Gelegenheit sich kennenzulernen
falls man sich noch nicht kannte

aber nichts geschah

die Frau stieg grußlos
an der nächsten Station aus
der Mann verließ den Zug
an der übernächsten
als sei nichts gewesen

Momentaufnahme

lang schaute ich nach vorn
nun blicke ich nach hinten
und sehe alles kleiner
feiner werden
und verschwinden

Beine

Ich sehe schlanke Frauenbeine laufen, eine gepflasterte Strandpromenade entlang. (War es gegen Abend?) Es sind die Beine einer bekannten amerikanischen Schauspielerin, deren Namen ich mir nicht merken kann. Es sind nur ihre Beine, die ich gehen sehe, wie selbstverständlich, schwerelos, in einem fließenden Rhythmus, die Füße in diesen High-Heels. Die Beine sind das einzige, was mir vom ganzen Film in Erinnerung blieb. Diese Beine, die so genüsslich liefen. Jeder Schritt ausgekostet unter dem Auge der Kamera. Jeder Schritt verkostet vom Zuschauer. Jeder Schritt im Blick schmelzend wie Eis auf der Zunge. Jeder Schritt ein Ereignis, das man immer wieder genießen könnte ohne sich satt zu sehen. Endlos. Und falls die Strandpromenade irgendwo zu Ende wäre, dann würden diese Beine einfach weiterlaufen, ohne High-Heels, barfüßig über den Sand, immer am lockeren Saum der Wellen entlang bis ans Ende der Welt. Denn die Welt ist eine Scheibe. Und sie würden weiter laufen über die roten Abendwolken … bis ans Ende des Films.
THE END

im Morgendämmer

manchmal bist du morgens
ein freundliches Gestein
leicht verwittert
die Sonne geht auf über dir
ihre Strahlen breiten sich
über mich

über mich, die stille Ebene
die an deiner Seite ruht

die Berge heben sich und sinken
im Rhythmus des Atems
weit draußen
zieht der große Vogel
einsam seine Kreise
über unsrer Stadt

morgendliche Begegnung

es will mir einfach
nicht gelingen
Herrn Silberfisch zum Reim
zu bringen

[er ist so huschig und so glatt
sein Gleiten macht mich himmlisch matt]

Herr Silberfisch und ich
wir zwei
sind Frühaufsteher
nebenbei

verschlafen rauf ich
noch das Haar
küss mir im Spiegel
wunderbar

die Lippen wach
da flitzt er schon
ganz ungebremst
auf dem Balkon

dann blitzeschnell
ihr glaubt es kaum
ist er zurück
im Nässeraum

bei mir ...

[er will es wohl genießen
die Allerliebste zu begrüßen]

Ich bin die Liebste
nur ...
ein falscher Tritt von mir
von ihm bleibt nichts
als eine zarte
Silberspur

[drum geb ich auf ihn acht
auch wenn ihr drüber lacht]


die Küsse

Die Küsse
löschten alles vorher
aus

So sind die Küsse
jetzt
wiegender Tanz


dein Schweigen

ich würde gern
über dein Schweigen sprechen
aber die Worte stocken
sind Gefangene
im Kerker meiner Kehle
würgend
werden sie zu meinem
Schweigen

bleibt nur eine traurige kleine
Melodie in meinem Kopf

das ist dein Tinnitus -
hör ich dich so deutlich sagen
als seist du neben mir

das klingt
wenn auch nicht schön
doch es klingt





Sehnsuchtsbilder

Sehnsuchtsbilder
entstehen da wo der Alltag
endet

sie tupfen Farbe
auf Weiß und setzen Lichter
ins Schwarz

flüchtige Skizzen
immer in neuen Formen
wiederkehrend

in einen Rahmen
gefasst
werden sie Alltag

so ein Tag

manchmal bedarf es morgens
nur einer großen roten Sonne
um dem ganzen Tag
Glanz zu geben

und deine Hand auf meinem Haar
verführt mich nachts
in die dunkle Höhle Schlaf
ohne Bedauern


In deiner Hand

Ganz
in deiner Hand

Sie ruht auf meiner Schulter
wärmt mir den Nacken
streicht über mein Haar
berührt meine Stirn
streift die Unruh' ab
wie ein lästiges Insekt

Sie zeichnet den Umriss
meines Mundes
neu

Voll und ganz bin ich
in deiner Hand

Mutter sagte

Mutter sagte

Dafür hast du noch
dein ganzes Leben lang
Zeit

Ich kipple am Rand
Mein Blick fällt
Endlich




Vollmond

[aus dem Ärmel geschüttelt]

es ist nur Stille in mir
angesichts des Monds
mit seinem vollen Lächeln
fange ich nichts an
heut' Abend
überlass ich ihn
den Grillen

Dämmerung

.

Wortlos
verabschiedet sich der Tag.
Noch Vogelzwitschern.

.



zum Glück

dann gingst du
mit dir ging das Licht
das Dunkel kam
der Mond  lag blass
in seiner Sichel zerzaust
die weiße Katz die
übern Weg mir schlich
die sah mich nicht
die schwarze Katz verschlief
die Nacht
zu meinem Glück
und du kamst doch
zurück


Mutter sagte ...


Mutter sagte

Hört das denn nie auf?
Sie meinte das
was mir der Vorhof
zum Himmel war



.

Blau scheint durch -
Vergissmeinnicht

.


kleiner grenzverkehr

kann sein

ich brauche einen
der anders denkt als ich
[und manchmal doch gleich]
der mir zuhört
[ich erwartete keine antworten]
der mein gespräch mit mir selbst
in gang hält

kann sein

ich wäre für ihn dasselbe
eine art menschlicher katalysator
oder einfach ein partner
für das laute denken

wir wären zusammen
ein kleiner grenzverkehr


gedankenfalter

ist wirklich
wichtig
was ich denke?

sind doch bunte falter
die gedanken gottseidank
meist flatterhaft

nur ...

die wiederkehrend
lästig nicht ausrottbaren
graupelzig fühligen sie
sind gewichtig

wenn du mich küsst


weil mir so ist
wenn du mich küsst

weil es so ist
wie du mich küsst

weil es so ist
wie's eben ist
küss ich dich
wieder

Sommerabend

siehst du
die Fledermäuse jagen
hörst du die Tauben
glaubst du
Tauben fragen 
wenn sie gurren
und diese Fliege
sonnig surrend
ist der Sommer

bleib
bis der Fuchs
mich zärtlich küsst
geh nicht
wenn Blätter fallen Äste brechen
bleib
wenn der Herbst
den Winter grüßt
bleib

vom nebeneinander gehen

ich habe mich oft gefragt
warum wir nebeneinander gehend
immer wieder aneinander stießen
so als wäre unser Leben sonst
zu reibungslos und dieses Reiben
im Gehen wäre das einzige
was uns zeigte
dass wir zwar zusammen aber
nicht eins seien

ich frage mich jetzt
warum ich neben ihm gehe
ohne dass wir aneinander stoßen
so als seien wir eins
als verliefe unser Zusammensein
reibungslos während wir uns doch
in Wirklichkeit immer wieder
unsere Ecken und Kanten
spüren lassen

die Rheinschwimmerin

die Rheinschwimmerin
und der Mann mit den sanften Händen
fanden sich
morgens
sie ließen erst voneinander
als der Hahn des Nachbarn
vier Mal krähte




Zeichnung: Jeannette Frei


Mutter sagte


Mutter sagte

verschenk dich nicht
zu leicht
es dankt dir keiner
   doch
ich verschenk mich gern
und frei
und pick mir meinen Lohn
vom Feld


Die Mitreisende

Worte quellen  unaufhörlich aus ihrem Mund. Kriechen ins Ohr, sickern zwischen den Sitzreihen, breiten sich aus bis ans Ende des Waggons. Klebriger Brei, unentrinnbar. Ab und zu springt ein silbernes Lachen. Dann wieder die zähe Lava.
Das einzig verständliche Wort ist ni hao. Und ... da!
Das Handy läuft heiß, glüht, fängt an zu qualmen. Ihre Haare geraten in Flammen. Der Laptop fängt Feuer. Langsam verkohlt das ni hao in ihrem Mund, wird zum wabernden Rauchring und löst sich endlich zögernd in Luft auf. xiexie, thank goddess, she's burning.

Ihre Silhouette betrachtet versonnen die vorbeifliegende Landschaft, lässt eine kleine chinesische Melodie entschweben. Dann greift sie erneut zum Handy. Ni hao!


ni hao = guten Tag
da = (keine Ahnung, was das heißt)
xiexie = danke

Mutter sagte


Mutter sagte

Geh immer dann heim
wenn's am schönsten ist
Denn schöner wird’s nicht mehr
      nur
Woher weiß ich
wann's am schönsten ist
Dass es am schönsten war
merk ich erst hinterher


nonsens wir

du und ich
ich und du
und zwischen uns
grast Müllers Kuh

und Müllers Esel
der schaut zu
und ich bin ich
und du bist du

mit dir und mir
sind wir gar vier
auch ohne Tier

Was ich so alles (nicht) weiß ...

Wer ich bin (manchmal)
Es tut weh,  immer wieder nicht zu wissen

Wo gerade jetzt diese Sehnsucht herkommt
Du bist doch da

.


Was mich töten wollte (im Traum)
Hab ich mich doch leben lassen

Warum ich den Morgen erleben durfte
Stand ich doch, den Mund voll Scherben
nachts mitten auf einer Kreuzung
hilflos

.


Wie lange es dauert, bis alte Pfade
ohne Trauer neu beschritten werden können

 .

Wie der Regenbogen
Wie der Regenbogen in deine Augen
Wie der Regenbogen in deine Augen kam

nachricht für dich

kaum noch zu entziffern
grau verwaschen
all diese ineinanderverfilzten
gedanken die geistern
ziellos ohne
niederschrift auf geduldigem
papier nur darauf lauernd
abzuheben zu schweben
sich endlich
niederzulassen
   beiläufig
in deinem ohr

das letzte Feld ...

auf dem Kornähren
zärtlich
mohnrote Blüten halten
sie im Wind wiegen und
ihnen ewige Treue flüstern
weit und breit

das letzte Feld


Liebe ist ...

ein filigraner Scherenschnitt

eine stumme Frage und  wortlose Antwort

raue Hände auf weichem Haar

der Atem, der neben dir im Nachtmeer dümpelt

die Balance von Spitz auf Knopf

eine ständig wechselnde Versuchsanordnung

Chaos, das sich zu immer neuen Mustern findet

zwei treue Parallelen, die sich endlich treffen

Gottes herzhaftes Lachen

Sehnsucht

Sie war mir einen Schritt voraus
Nun sind wir auf gleicher Höhe, zwei Schwestern
Und gehen gemeinsam

.

she was one step ahead
now we are sisters
walking together


strange fruits

seltsame früchte
träumen sich hin zur reife
im baum der erkenntnis /
zu früh gepflückt
lösen sie sich auf
in nichts

Berner Übereinkunft zur Bestrafung von Fluggästen

Mein kostbares Schweizer Messer ist in China geblieben.
Wahrscheinlich ritzt sich genau in diesem Moment irgendwo ein junger Chinese die Haut mit meinem Schweizer Messer. Oder er schneidet sich damit die Nudeln in der Nudelsuppe.  Letzteres wäre mir lieber. Es ist keine schöne Vorstellung, dass sich ein junger Chinese mit meinem Messer selbst verletzt.
Aber – es ist jetzt nicht mehr mein Messer. Es kann also machen, was es will. Nudeln schneiden oder ritzen.
Warum es in China geblieben ist?
Weil ich so dämlich war es ins Handgepäck zu packen statt in den Koffer. Und Dummheit wird gemeinhin bestraft. Als Ersatz hätte ich mir beim Verlassen des Flughafens am Zielort ein neues, altes Feuerzeug aus einem durchsichtigen Behälter mit vielen bunten Feuerzeugen holen können. Einfach so, ein mir vollkommen fremdes Feuerzeug. Weil irgendein nikotinsüchtiger Chinese genauso dämlich war wie ich und sein Feuerzeug im Handgepäck verstaut hatte.

Flughäfen sind international, Dummheit auch. Ohne Ansehn der Volkszugehörigkeit wird sie auf der ganzen Welt gleich bestraft. Zumindest auf den Flughäfen. Nur gibt es keinen Behälter mit verlassenen Schweizer Messern. Pech ...

Blick in die Zukunft

Rastlos. Ratlos vorm Kühlschrank. Milch, Butter, Joghurt. Immerhin. Trotzdem - erinnert irgendwie an die Kühlschränke der Fernseh-Ermittler. Die kommen spät abends heim und treffen nur noch auf ein einsames Dosenbier. Ist das da wirklich meiner? Wohne ich hier? Unten im Gemüsefach ein verschrumpeltes Gurkenende. Und ein Fläschchen Sojasauce in Schräglage. Das muss von mir sein. Halt, da – Bautzener Senf. Gekauft mit der Vorstellung von Knast. Und das geschenkte Glas selbstgemachter Erdbeermarmelade, das nie leer wird. Inhalt schon leicht angegraut.  Bin das wirklich ich? Der letzte Rest Reibkäse kurz vorm Schimmeln. Könnte schlimmer sein. Die billige Flasche Weißwein,  noch ungeöffnet.
Es gibt eine Zukunft. Auch ohne Dosenbier.
Restlos glücklich.

... und aus bist du

Wir waren die Augensterne
der Mutter, ritten auf  Vaters Knie
in die Welt. Wir waren Nomaden,
ihr Atem war uns schützendes Zelt.
Gerüche waren uns Freund oder Feind,
niemals lau. Und Hände, groß und rau,
ließen uns knistern wie unter Strom.
Wir hüpften den Weg statt zu laufen.
Wir fielen, die Narben verheilten kaum.
Junge Tiere waren wir, wild
unsere Freude, ungezähmt unser Leid.  
Wir waren Störfaktoren, Kraftwerke
strahlend, voll Energie. Mit der Zeit
verloren wir das Lachen
wie Mutters zu großen Schuh.
Wir verdrängten das Weinen.
Und aus bin ich. Und aus bist du.

Jazz

Wind in den Wiesen
in so vielen
Weisen grün der Frühling
kaum zu fassen
die gelben Blätter
der Rot-Eiche
lachen zum Himmel
empor
heb dein Gesicht
zur Sonne

der Garten der Kindheit

ist doch
der Garten in mir
jetzt
die schlanken schwarzen
Tulpen /  zartblaue Wolken
von Vergissmeinnicht / Iris
in allen Farben / regenbogengleich
und Akeleien die feinen
die stets so tun
als ob

ist doch
der Garten in mir
jetzt
in dieser Zeit des Regens


Jeannette Frei, Frühling 2012 (Ausschnitt)

dein Bild

Ich rahme dich taubengrau
wie der Regenhimmel
über meinem Haus

Ich rahme dich feuerrot
wie die Bauerngeranie
vor dem Balkon

Ich rahme dich lichtgelb
wie der Schein der Lampe
in meinem Fenster

Draußen wird es langsam Abend
und der Regen fällt und fällt
Heute kein Regenbogen
um dich zu rahmen

Alas

Ich mag dich rahmen
tausendfach doch
ändern will und kann  ich nichts
an deinem Bild

Füllhorn

schenk mir dein Füllhorn
gefüllt bis zum Rand

bunt sollte es sein
selbstverliebt sonnenverwöhnt
Raum sollte es haben
für uns und
unsre Träume ließe ich
purzeln
wie sie kämen
Füße zuerst oder
Schopf voran
wie sie wollten
fliegen sollten sie
platzen
bunte Fetzen nähm ich
in Kauf
sammelte sie
in meiner Kiste
der Kostbarkeiten

ich wünschte es wär
so
ich wünschte wir wären
so

Und ich bin

Der Wind hat's verweht
Was?
Ich weiß nicht
Ich weiß nur: Es ist nicht mehr da
Und es ist still wie
Schon lange nicht mehr
Und es ist grün wie
Schon lange nicht mehr
Und es blüht wie
Schon lange nicht mehr
Und ich bin

Kerzen in einem buddhistischen Tempel in Shanghai

Zeit für mich

Zeit für mich / im Innenhof

gefangen / das Gurren
der Tauben
gestohlen / die Strahlen
der Sonne
erhört / das Selbstgespräch
des Beos

Zeit für mich / ein Mantel
aus jadegrüner Seide


Das Lächeln des Drachen

Worte verlöschen
vor den Lichterketten der großen Stadt

Worte versanden
im ausgetrockneten Flussbett

Worte irren
zwischen den tausend Pappeln

Worte stranden
an der tausendjährigen Mauer

Das rote Lächeln des Drachen
verliert sich
zwischen himmelhohen Häusern

China (2013)

China: ein Gewusel von Menschen, Lauten, Farben, Gerüchen. Ein ruhiger Moment ist ein grüner Stein, ist das Gesicht der alten Müllsammlerin, ist ein trockenes Flussbett, ist ein Vogelgezwitscher, ist der Wasserbüffel im Regen, ist die Dschunke auf dem Nebelfluss, ist die Skyline der Hochhäuser gegen den Abendhimmel. Ein ruhiger Augenblick ist kostbar.

Auf dem Nebelfluss (Jangtse) 







ich reise

Ich reise. In ein Land, dessen Sprache ich nicht verstehe, dessen Schrift ich nicht entziffern kann, dessen Geschichte mir fremd und dessen Gegenwart mir unverständlich ist. Seine Bewohner sehen anders aus, tragen aber das Herz am rechten Fleck, nämlich links. Der Himmel ist hier wie dort derselbe. Der Mond scheint hier und dort gleich. Die Sterne singen überall. Die Sonne steht morgens auf und geht abends unter. Alles ist anders ähnlich.

Ich wähle eine einfache Jacke, schlüpfe in offene Schuhe. Ich befeuchte den Zeigefinger und halte ihn in den Wind. Ich hänge die Fahne hinaus. Sie dreht sich gen Osten. Mein Kompass zeigt nördlich. Ich überfliege den Pol, wende mich dann nach Süden. Lande lächelnd in einem Land des Lächelns.

Bin dann eine Weile weg. Es wird still sein hier. Besucht mich wieder!

nur kurz

nur kurz / schau
draußen schon Dämmer / kurz
vorm Zubettgehn / müde
das Murren des Fliegers
in offner Balkontür / hell war
der Sommer / so schnell
vorbei / obwohl
ist doch erst / Frühling
erst Frühling

Ikarus

sich hoch erheben / schweben
weiße Pferde reiten / schwerelos
auf Himmelswellen / gleiten
unter der Sonne / trügerisch
und warm

stechend heiß?

Gestank / versengte Federn
ein Blick nach unten / fern die Erde
Gefühl von Ohnmacht / frei der Fall
und endlos / wildes Brausen
überall

Mauer-Blüten (Berlin 2013)

am Wegrand -
pflücken, was dir begegnet
roh verzehren
.

nie mehr Krieg -
der Star auf der Mauer singt
aus voller Brust
.

Zerfall in Raten
letzte Zeilen vor dem Abriss


Starkbier

Da lümmelt einer
Füße auf dem Sitz
Augen vernebelt
Ohren verstöpselt
Mund weit offen
Flasche im Hals

Es gluckert hell
Auf dem Etikett steht:
Dunkel

Löwenmond

Die Nacht holt ihre ganz eigenen Töne aus deiner Brust.  Atmen im Brachland. Ein Seufzen, das durch trockenes Gras fährt. Ein Stöhnen knorriger Äste. Ein träges Knurren, das den Tag vertreibt. Ein kurzer Laut, der sofort mit dem Dunkel verschmilzt.

Manchmal legt sich ein Löwe zu dir. Der schläft unruhig, wälzt sich, grollt wie fernes Gewitter, zuckt im Traum, greift nach dir mit seiner Pranke. Du bleibst unversehrt, denn es ist Nacht. Du schmiegst dich an seine Seite, horchst auf das Rasseln in seiner Brust. Hoffst, dass die Dämmerung ihn besänftigt erwachen lässt.

Teile deine Nacht nie mit einem, den du nicht liebst.
und jeden Morgen / tanzen
die Farben neu für mich
geleiten / blasser werdend
weichen / wenn's dämmert
Schatten / schmiegen sich
in meinen Arm

und jeden Abend / wiegen
mich traumlos / Träume
der Schaum der Tage
schillernd / Bäume
auf  ihren Kronen / ruhe ich
du hältst mich warm

Ahnung

Dann ist es plötzlich besser
als vorausgesagt die Sonne
zwar verwaschen aber
die roten Tulpen lassen
nur wenig
die Köpfe hängen
Man könnte es deuten
als ein vorsichtiges Spähen
nach etwas lang Vermisstem
Vielleicht kommt es
endlich vorbei
das Frühlingsglück
in Siebenmeilenstiefeln
frisch poliert

Ich schalte sie an
die Lampe im Fenster

Hautkleid

auf deinem Herz
     unterm Grind
zeigt sich neue Haut
rosa zart glänzend
wie das Sonntagskleid
     früher
das du mit Stolz
zum ersten Mal trugst
     vorsichtig
weil noch kostbar
     verletzlich
du wolltest es bewahren
     schützen
nicht vor neidischen Blicken
sondern vor dem Staub der Straße
zu deinen Füßen
der deine blanken Schuhe
nicht verschonte
Dächer in Rot
nackt ohne Schnee
der Himmel grau vernagelt
kann nicht anders
weint wieder Flocken

schal das Gefühl
dass es nie enden wird
das stille Weiß
auf  Rot

ein Flieger kommt
aus Madeira
nach Hause

Mantra

 hab dich im Herzen
Herzhaut hält uns zusammen
wie eine warme Decke ist sie uns 
über beide Ohren gezogen
reicht nicht ganz für unsre Füße aber
nichts ist perfekt
sag ich mir selbst
leise beschwörend
ins Ohr
immer wieder
wieder

so rot

so rot brennst du
in meinem fleisch noch immer* 

legst du mir wilde
brände in die ausgedorrten augen
zündelst im herzwald
wirfst achtlos deine kippen
in den traummüll
auf blütenlaken so rot
brennst du


* elsa rieger

Wiegenlied

nun gib endlich Ruh
lass die Unruh verfliehn
lass die Leine los
lass sie einfach ziehn

kommst du nicht zur Ruh
so kommt sie zu dir
und wer weiß, was geschieht
wenn's dann still wird in dir

komm ich helf dir, ich wieg
deine Unruh in den Schlaf 
hoch über uns ziehen
ganz gemächlich die Schaf

sie ziehen, egal was wir
tun auf der Welt
der Wind, der jagt sie
übers himmlische Feld

Zum Schluss noch Fragen?

Wolfgang Herrndorf* hat die gleiche Angst wie ich: Es ist die Angst vorm Unbekannten, das unterm Bett wohnt. Oder ist es sogar dieselbe Angst? 

ES, das Uralte, kauert im Dunkeln und kann nur durch den Wahnwitz eines Weitsprungs in die Federn überlistet werden. Ist egal, wie alt du bist. 10, 33 oder 57. Zählt allein die Wendigkeit und Schnelligkeit deines Sprungs.
Immer hockt das uralte Unbekannte da unten und lauert nur darauf, dass du allmählich nachlässig, langsamer wirst, dass es dich schließlich erwischen kann, gierig am Bein packen, genüßlich unters Bett ziehen. Und dann? Hörst du es?
Edgar Allan Poe. Deiner Phantasie sind keine Grenzen gesetzt.

Bis du in der Kiste landest. Dann gibt's Ruh. Endlich.
Oder, besser noch, bis du dir einen Löwen aufs Bett setzt. Der brüllt's nieder.


* Der Autor von "Tschick" u. a. 
Und Phantasie wird für mich in jedem Fall mit ph geschrieben.


federleicht

ab ins geäst
und wippen picken
der baum hält still
genießt und lässt

besuch vor ort
mit kopf nach unten
freundlich nicken
weg und fort

zielstrebig eilen
rascheln huschen
nur flüchtig gründeln
kaum verweilen

nimm Drei

im Dunkeln erstes Gezwitscher
mein Atem tastet nach dir
.

nur für kurze Zeit
Wildlinge tanzen auf der Lichtung
.

frisch verliebter Wald
zwei Jogger in Ekstase


Sonnenanbeter

www.picturepilot.de
zwei Sonnenanbeter
die sich verneigen
vor dem Frühlingsanfang


noch Fragen?

.
das leere Blatt -
Ort für die Stille
in mir
.

das leere Blatt -
in mir ein Ort
für die Stille
.

Sehnweh

und da
waren die Sehnsucht und
dann das Heimweh
Bruder und Schwester

das Heimweh war jünger
als die Sehnsucht
die Sehnsucht
älter als das Heimweh
oder war's umgekehrt?

Sehnweh Heimsucht
einander so ähnlich

Wehsucht

Heimweh

dein neuer Schlüssel
trägt ein buntes Band

du erkennst ihn

doch immer wieder
stockt er im Schloss
immer wieder übst du
aufs Neue ganz neu
als ob es nie vorher
einen Abend gegeben hätte
als ob du nie vorher
einen Schlüssel ins Schloss
gesteckt ihn nie darin gedreht
nie eine Tür geöffnet
hättest immer wieder
entgleitet er
deiner Hand

der schäfer

da stehst du nun

um dich nur nebel
in dir verlorenheit
so plötzlich
kühl

der schäfer
kommt dir in den sinn

seine augen
eisblaue bergseen
durchsichtig
bis auf den grund

du sahst dich selbst
darin

was ihn wohl umtrieb
inmitten seiner schafe?

du kannst dir nicht
vorstellen
dass einer treibt
du kennst nur
getriebensein
unruhig

Fragen über Fragen

Vor dir liegt ein neuer Tag.
Wird er dir abends ähnlich sein?

Dein Morgen beginnt grau.
Ziehst du die rote Hose an?

Du hast dir das Bein gebrochen.
Welchen Berg besteigst du im Traum?

Dein Strumpf hat ein großes Loch.
Läufst du barfuß weiter?

Es ist Karneval.
In welche Maske schlüpfst du, um ganz du selbst zu sein?

Es schneit. Es hört gar nicht mehr auf.
Wie verpulverst du den ganzen Schnee?

Du kaufst Wein für zwei.
Trinkst du alleine oder teilst du mit deinem Kater?

Die Sonne scheint dir ins Gesicht.
Schließt du die Augen oder setzt du eine dunkle Brille auf?

Du bist sinnlos erschöpft.
Womit befüllst du deinen Tank neu?

Was schreckt dich am meisten?
Die Vorstellung, nie geboren worden zu sein, der Gedanke, dass du sterben musst, oder die Vorstellung eines ewigen Lebens?








sich sicher sein


im Schneetreiben
finden ohne zu suchen


winter ade

es taut. bald wird die eisgardine
schmelzen. die dächer weißgeschminkt
und mit verrutschter haut. die vögel
fragen laut.
antwort bleibt aus. der frühling baut
heimlich sein nest. grau spielt
ins blau. halt mich
ganz fest!

foto: www.picturepilot.de

die kleine orgie

wenn gar nichts mehr geht, dann geht immer noch das.

mit einer wärmflasche unter die bettdecke und die füße daran festkletten wie ein neugeborener affe.
die wärme kriecht über die fußsohlen, leckt die waden hoch, durch die kniekehlen, die oberschenkel entlang.
dann folgen das breite becken und die stillen wasser.
und dann, irgendwann, über die knochenleiter, klettert die wärme hals-über-kopf.
... und es geht wieder was.
es geht eine gelbe sonne unter deinem bauchnabel.
es geht ein kleiner hüpfer in deiner brust. [ links]
es geht ein feines lächeln über deine lippen.
es geht eine warme flut, die enge hirnwindungen freispült.
es geht ein laues lüftchen durch deine haarspitzen.
und es geht noch mehr. viel mehr.

woran du erkennst

dass du dich liebst ...


du fühlst dich angesprochen
wenn du mit dir selbst redest

du kannst dir nur schwer
einen Tag ohne dich vorstellen

du findest dich wieder
schwarz auf weiß
in den Seiten eines Buches
das dir lieb ist

du verlierst dich nur ungern
im Nebel der Gedanken

du hältst dein Gesicht in die Sonne
und fühlst, sie meint dich

du öffnest alle Poren
für deine ganz eigene Musik

du umarmst dich selbst
im Schlaf
und glaubst den Seligkeiten
die dir ins Ohr wispern

Feuersee

da ist diese frühe Ahnung von Frühling
die Sonne liegt wie ein weiches Tuch
auf dem Gemäuer der alten Kirche
der See gibt auf
seine reifweiße Oberfläche zieht schwarze Löcher
die Enten dümpeln darin
am Rand die Weiden stehen freundlich
schon den ganzen Winter wirken sie so
ein wenig nachlässig doch freundlich
hängen sie überm Wasser
wird schon wieder wird schon wieder
ist ihre Rede
ich will's gern glauben

Begleitung

.
die Lederjacke -
durch dick und dünn
bekleidet sie mich
.

Matroschka

ein klein bucklig Weiblein
[öffne mach's auf]
darin
ein kleiner bucklig Weiblein
darinnen
[ach]
ein winzig bucklig Weiblein
und innen
ganz tief drinnen
[                        ]
lebendig atmend
der Schatz den es zu hüten
gilt

fünfzig worte

fünfzig worte am tag
zur übung für das überleben
zum floß gebunden
locker treibend
das ziel selbst gesetzt
leicht zu erreichen
denkst du dann schreibe
fünfzig worte am tag
die dich enthalten die für dich
stimmen für dich stehen
hier und jetzt und immer
fehlt eines oder eines ist
zuviel

Liebe

wir legen Hand an
unsre Mauern
schaffen Durchbrüche
flicken mit Lehm
und Stroh
auf alte Art
erhalten was uns dient

wir senden tastend
Töne in unsre Stille
fangen
mit ungeübten Händen
das Echo
formen daraus
ein Herz und eine Seele

erdichten uns
das singende Buch
in dem die Wörter
klingen
zusammen reimlos

weißhelles eis

.
regungslos -
ich sehe dem see
beim zufrieren zu
.







weißhelles eis dünnhäutig
klirrend unter sohlen

so schwarz die rabenspur
querbeet ins nichts
nur kurzer augenhalt

winterfeld krähenland
frosterstarrt harte hand



foto: www.picturepilot.de


aus dem Nest ...

... gefallen
lässt den Vogel
taumeln
kaum dass er sich
fängt im Flug
jagt durchs kleine Herz
reift dort so kalt so
winterfrostig weiß und
breitet sich
darin die neuvertraute
Einsamkeit

Foto:  Melanie Garanin

schattenschoß

gern wär' ich dein traum
würd' leise dich
halten
still dich
wiegen
in meinem schattenschoß
dir helle hoffnung
schenken

suchbegriffe

was ist schon
ein leisepenner
gegen eine reife traumfrau
eine oma im korsett?
wo ist sie geblieben
die kittelschürze
die schwesternschürze
blütenweiß?
noch rasch
alte teigflecken entfernen
und das abschiedsschreiben
an den großvater
auf später verschieben
das löschen von no reply
im aschermittwoch spiel
und an pfingsten
die flügel der libelle
im sonnenlicht

krebsgänge

in der sackgasse
zwei rechts zwei links
eine fallen lassen
hacke spitze drehung
vorwärts rückwärts
seitwärts
still stehn augen zum himmel
oben unten
fliegen oder fallen
dem boden die stirn
bieten beten bitten
die erde küssen
bis sie endlich
nachgibt

sei

die rote Sonne, die für mich aufblüht
die Sternschnuppe, die um meine Wünsche weiß
die Mondsichel, die lächelnd  niedersinkt
des Nachts
sei ganz
du

schau in mein verwandertes Gesicht

schau in mein verwandertes Gesicht *
seine Pfade mäandern
mit den Bächen
seine Wege fransen
ins Brachfeld
seine Furchen sind tief
Entwurf eines letzten
Lächelns vielleicht
das einzig Schöne
am End


*Else Lasker-Schüler