.

Steinschlag -
das Herz bricht wieder
entzwei
.

der Mantel

häng deinen Mantel
an meinen Haken
die Ärmel können ruhig
baumeln der Kragen darf
hängen und die Taschen
können klaffen
Hauptsache er atmet dich
in jedem Knopfloch
Hauptsache du wohnst
in seinem Futter
Hauptsache du bist
in seinem Stoff verwebt

der Engel und ich

Keiner hat so viel Spaß an deinen Missgeschicken
wie dein Schutzengel. (Elisabeth Kübler-Ross)


Das ist doch mal eine Aussage! Ich hab schon oft vermutet, dass dieser Engel, der mir ständig nachspioniert, viel Spaß an mir hat. In den falschen Momenten natürlich. Normalerweise sieht er pubertär verdruckst aus, stehen geblieben wahrscheinlich, während ich mich doch weiterentwickelt habe, hoffe ich. Seine Pickel scheinen für die Ewigkeit geschaltet. Ich hatte seit einer Ewigkeit keine mehr, jetzt tauchen sie plötzlich wieder auf. Etwas kehrt sich um. Vielleicht nähern wir uns wieder an, er und ich. Seine Haare leicht fettig, zu lang natürlich. Meine zwar kurz, aber immer pflegebedürftiger. Er schadenfroh, das weiß ich jetzt, ich … na ja, ich auch, wenn ich ganz ehrlich bin. Also sind wir uns ähnlicher als ich dachte. Und das beruhigt mich ungemein, denn ein Engel kann nicht ganz schlecht sein, also bin ich irgendwie ganz gut.

Was mir fehlt sind die Flügel. Die würde ich ihm gern abschwatzen, nur für einen kurzen Rundflug, zur Probe sozusagen. Er bekäme sie auch garantiert zurück. Ich fliege nämlich gern. Auch das haben wir gemeinsam, mein Engel und ich.

Er ist menschlich, ich bin engelsgleich. Manchmal.
.

still ist's -
die Nacht hält den Atem an
um des Friedens willen

.


vermintes Gebiet -
ein Schrank voller Wäsche
noch von der Mutter


der himmel

der himmel
hat sich geöffnet

ich tauche
mein gesicht
in dein licht
trockne es
mit den wolken
weiß
lächle dir zu

Fehlkauf

Fünfundvierzig Engel für die Katz. Engel, die niemand wirklich braucht, Engel ohne Einsatzort. Liebliche Engel, blondgelockte Engel, freche Engel, Engel-Bengel für die Katz. Nur weiß die Katz nichts davon, keiner hat sie vorher gefragt, und selbst wenn sie davon wüsste, wüsste sie nichts mit den Engeln anzufangen. Kennst du eine Katze, der es geglückt ist einen Engel zu erwischen? Ich nicht. Ich kenne nur Katzen, die halbtote Mäuse heimbringen. Das ist schlimm. Aber, einen halbtoten gerupften Engel will ich mir lieber gar nicht vorstellen. Also, fünfundvierzig Engel für die Katz, die nichts davon wissen darf. Schnell wegräumen! Ganz weit hinten im Schrank verstauen, dort wo sie niemand vermutet.
An Heiligabend lass ich sie fliegen.

für Jeannette

sich verhoffen

täglich eine Handvoll / Hoffnung
das Blaue vom Himmel / herunter
holen und leise halten

celluloid I






















keinort irgendwo nirgends
frisch zweigende gleise
immer dieses scheiden

nie nur ein
happy end

foto: janick neundorf

wandlungen

sich verkleiden
und neu erfinden. noch ungewohnt
die maske

sich verpuppen
und neu schlüpfen. noch feucht
die flügel

sich verlieren
und neu finden. noch jung
die liebe

weiß nicht

weiß nicht, wann du kommst. keine zeichen, auch nicht am himmel. keine nachricht, die mich rot anblinkt. kein schlüssel, der sich im schloss dreht. das ticken der uhr, die warten nicht kennt, nur mitleidloses zählen der sekunden bis zum batterieversagen. in den ohrkanälen plätschert die stille. draußen im schwarzen nachtbrunnen das grollen eines fliegers, der sich südwärts tastet. lampenschein wärmt wenig.

lausche, bis der schlüssel sich lautlos im brustschloss regt. öffne. lasse die wärme ein.

was sind die nächte /
löchrige decken zwischen
zerfaserten tagen nach denen wir
uns strecken in netzen gefangene
nachtmahre / tauchen ins
bodenlose und stimmloses aufsteigen
ins licht aufsammeln gefallener
maschen einfangen verblichener
vögel auf leimruten gebändigtes
singen / wollen wir doch festhalten
festhalten
in unsren gierigen käfigen
für später für später für
immer

Schlafmohn

Jeannette Frei: Schlafmohntuch, April 2012



































schlafmohn
breitet sein tuch. du lässt dich
fallen

daheim. zu besuch

frostgefahr.
geranien setzen ihr rotes signal. an der weißen wand
noch die umrisse der bilder.

du spürst
deine fehlende hand.

Das Gold

Herbstsonne, ihr Eindringen in den Raum, in dem ich bin, allein, ohne.
Das Nebeltuch wie fortgeblasen.Grau, golden übertüncht.
Gold auf dem Bild, Gold auf der Wand, Gold auf dem alten Holztisch, Gold auf den goldgelben Kissen des Sofas, Gold auf meinen geschlossenen Augenlidern. Herzgold. Das Gold der müde hängenden Blätter des Kirschbaums in Nachbars Garten. Das Gold der Bank draußen auf dem Balkon. Da sitzt es, das Gold, und ruht sich aus im eigenen Licht. Alter Mann, der seine vorletzte Zigarette raucht. Abendgold kommt von Westen, versinkt in Wolkenkissen, zögernd, zusammen mit der Sonne. Die beiden sind schon lange ein Paar. Schon ewig.

Foto: Isabella Kramer

frag dich

Bist du dir manchmal selbst fremd? Was tust du, um dich wieder mit dir anzufreunden?

Wenn du einen anderen verletzt, trifft es dann auch dich?

Wer antwortet dir, wenn du in dich hinein rufst? Gibt es ein Echo?

Wer zieht häufiger deine Gedanken auf sich? Dein Freund oder dein Feind?

Kannst du dir vorstellen, einfach liegen zu bleiben, wenn du fällst, und die Erde zu umarmen?

Kannst du dir vorstellen, blind, taub und stumm zu sein? Was wärst du dann?
Eine Pflanze? Ein Maulwurf?

Gab es Situationen, in denen du die Regenwürmer beneidet hast?

Siehst du manchmal nur noch schwarz?
Welche Farbe würdest du wählen, um dich selbst aus dem schwarzen Loch zu locken?

Herbst

heb' meine Augen
in dein Regengrau
Tropfen zerstieben / auf meinen Lidern
sammelt sich Herbstgold
bereit zum Abflug

tauch' meine Augen
in dein Nebelgrau
wie Tau legt sich's /auf mich
und breitet sich des Himmels
daunenleichte Decke

und über uns das Zeichen
der Flug der Gänse / pfeilschnell
geradewegs nach Süden

neuer entwurf

hier noch nicht / dort
nicht mehr / im alten
schon verwaschen / im neuen
erst grob / umrissen
ein erster entwurf

lass uns spielen

lass uns spielen
die jagd mit dem falken
richte den blick nach oben
hinter uns brennt
der dornbusch

mal bist du erster
mal bin ich vorn'
ein wenig außer atem
schadet nie

die zielgerade
winkt freundlich von fern
sie trägt eine narrenmütze
läutet narrenglöckchen
ihre ärmchen und beinchen
sind aus zündhölzern
zerbrechlich

gelobt sei
das fleckchen ruhe
am end'

fremdeln I

fremd bin ich / mir
und dir / so fremd

fremd steh ich / neben
uns / so fremd

fremd geh ich / fort



fremdeln


Das Leben
lärmt. Auf dem Papier
verstummen

leeres Blatt

Ein leeres Blatt ist hungrig. Es will beschrieben werden. Selbst wenn es nur ein virtuelles Blatt ist. Blatt ist Blatt. Weiß ist weiß. Leer ist leer. Und wenn du statt Schwarz auf Weiß lieber Weiß auf Schwarz schreibst, dann ist eben Schwarz leer und ist ein schwarzes Loch, das gefüllt sein will und alles aufsaugt, was in seine Nähe kommt, ohne sich je wirklich zu füllen.

Auch für den Schreiber ist es gut ein wenig hungrig zu sein. Ein leichtes Hungergefühl treibt die Gedanken vorwärts wie eine Herde Schafe, die hoffen, ein besonders wohlschmeckendes Kraut zu finden. Satter Bauch ist mit sich selbst zufrieden. Knurrender Magen treibt. Schneller, weiter. Höher? Vielleicht, im besten Fall auch höher.

Hunger ist Sehnsucht. Sehnsucht ist Hunger, der nie gestillt wird.

der Traum

Sie denkt an ihn. Sie denkt ihm nach. Sie denkt ihn her.
Die Gedanken ziehen konzentrische Kreise.
Die Gedanken umringen ihn wie eherne Wächter.

Sie sehnt sich. Sie sehnt sich nach ihm. Sie sehnt ihn herbei.
Die Sehnsucht nagt schwarze Löcher in die Sonne.
Die Sehnsucht zieht sie mit klammen Fingern hinab in den Keller.

Sie lächelt. Sie lächelt für ihn. Sie lächelt ihn an.
Das Lächeln ist der Dorn einer gelben Rose.
Das Lächeln sticht zu, mitten ins Herz.

die Blume

mein Kelch war offen
Licht fiel tief
in meinen Blütengrund
ich rollte mich
verschlief die Nacht und
wachte auf betaut
beglückt gepflückt
von deinem Mund

Gewitter im Raum

dumpf brütend
unsichtbare Blitze zucken
lautlos
ein Splittern schwer Tragender
feines Reißen dünner
Trennwände oder Klirren
von Eis?  jedenfalls gebrochen
Risse haarfein überholt
von der Wirklichkeit die
Lichtstunden entfernt
brutal hereinbricht
über die sonst pausenlos Strahlende
mit den Himmelstürmen

und von dir
kein Laut!




Der Rausch

Draußen.   Schneegraupel fällt. Nachlässig ins Grau verwaschene Farben. Die Palette hält nicht, was sie gestern noch versprach. Einer wusch sie aus, versuchte sie zu löschen, um mit anderen Farben neu anzusetzen.

Drinnen.   Etwas Wildes ist entstanden, der Pinsel verhielt sich anders als geplant. Er malte sich frei, die Malerin konnte nur zusehen, wie er über die Leinwand tobte im Farbrausch. Darin innig zwei Liebende, sich eng umfangend, eingehüllt, versunken in dick gespachtelten Farbdecken, gewärmt vom roten Rausch. Ein wirbelnd seliger Taumel.

Kommt irgendwann das Morgen. Und Farben ändern sich, wir wissen noch nicht, wie.

Jeannette Frei, Ausschnitt aus der Farbpalette, Abteilung ROT,  2012

neues Blatt

könnte ja sein
dass die Zeilen
unverblümt
aussprechen was zwischen ihnen steht
die Wörter sich neu fügen
eine Spur nur
sich anders setzen

könnte ja sein
dass die Menschen
unverhüllt
zeigen was in ihnen brach liegt
sich in Teilen neu erfinden
eine Spur nur
sich anders leben

könnte ja sein
dass der Zauber des Anfangs
sich fortpflanzt
bis zum Ende

Das Herz

Sie schmeckt Rost in der Kehle. Ihr Herz fühlt sich verbraucht an, schwarze Schlieren ziehen sich über die Oberfläche. Sie sieht sie ganz genau, diese dunklen Schlieren, die die Oberfläche aufrauen, wie kleine Gräben, wie ausgetrocknete Flussbette, die es zu überqueren gilt, wenn man ans andere Ufer will. Das andere Ufer glänzt feucht, rotsandig. Es ist steil. Sie weiß nicht, wie sie es erklimmen kann. Springend vielleicht, wie die Gnus in Afrika, wenn sie in großen Herden durchs Land ziehen auf ihrer Wanderung und dabei Flussläufe queren. Aber, sie ist nicht Teil einer Herde, sondern allein.

Herzsprung. Das fällt ihr ein. Sie weiß nicht, was es bedeutet. Ob es überhaupt etwas bedeutet, dieses Wort, das ihr da einfach so einfällt. Herzklamm fällt ihr ein. Auch das ohne eigentliche Bedeutung und trotzdem schwer wiegend. Sie denkt um die beiden Wörter herum, hört dabei die Küchenuhr die Zeit verticken. Die tickt gleichmäßig wie ein gut funktionierendes Herz. Kein Rasen, kein Stocken, kein Beschleunigen. Immer derselbe regelmäßige Puls, der die Zeit in kleinen Einheiten misst, sich wie ein grob gewebter Teppich unters Bewusstsein legt. Ohne das Ticken der Uhr verginge die Zeit unmerklich. Sie wäre ein Fluss, dessen  kaum hörbares Murmeln das Bewusstsein nicht erreichte.

Sie greift sich links in die Brusthöhle und nimmt das Herz heraus. Legt es auf den flachen Handteller. Es ist schwerer als sie dachte. Es pulsiert, zuckt, dehnt sich aus, zieht sich wieder zusammen. Ein lebender Muskel, überzogen von schwarzen Schlieren. Vorsichtig fährt sie mit dem Zeigefinger der Rechten über die Oberfläche, fühlt das Glatte, Feuchte, tastet das Raue, Trockene. Streichelt es kurz. Legt dann das Herz wieder zurück an seinen Platz. Fühlt es in der Brust pochen, regelmäßig, wie die Küchenuhr. Horcht noch eine Weile in sich hinein und lässt es schließlich sein. Sie weiß, es schlägt und wird so bald nicht aufhören zu schlagen.
Du bist
der fehlende Handschuh
den ich erst vermisste
als ich ihn wiederfand

Ich betrachte uns
während wir schlafen
Auf unsere Stirn
steht keine Schuld geschrieben

Die Amseln
schlagen Alarm -
Frühling im Herbst
.

eine weiße Katze
lief mir über den Weg / heute morgen
brachte ich ihr mein Glück

.

verweht

verweht / heißt nicht
vergangen vorbei vergessen
doch
das Innigste fehlt / der Halt
die Wärme / das Strahlen das
sich ausbreitet / in konzentrischen Kreisen
dich und mich umschließend
abschirmend

.

Heimkommen  -
das braune Holzstühlchen
glänzt vor Freude

.


herbstlich

noch warm / fällt der Regen
auf die Blätter / rollen sich
zusammen / genüßlich
igeln sich ein / jedes in seinem
Braun / bevor der Wind
zur Treibjagd bläst


Rattenschwanz

Wirkungen
führen zu Nebenwirkungen
die wieder Wirkungen erzeugen
die Nebenwirkungen
nach sich ziehen

was also tun?

in Wirren
heiter

weiter wirken

unterwegs III

rosenrot ist mein Schirm
aufgespanntes Segel
am Strand des Bahnsteigs
schwanke ich im scharfen
Westwind
auf dem Sprung bereit
lausche auf den Pfiff des Zuges
… weiß nicht ...
ob er kommt
wann er kommt
ob er hält
einfach weiterfährt
ohne mich

mein rosenroter Schirm
hält die Wolken
oben

hörversion 

vertane Chance

hättest du keine Angst / dann
würden scharfe Hunde winseln
wenn du kommst / würden harte Männer
weich / bei deinem Anblick
bliebe kein Auge trocken

wärest du furchtlos / würden
Pitbulls dir aus der Hand fressen
wenn du kommst / würden Muskelprotze
dich in tätowierte Arme schließen
lächelte der Stahl in ihren Augen

weil du Angst hast / schlägst
du einen weiten Bogen
um scharfe Hunde und / harte Männer
verschonst du / mit deinem Anblick

sie werden nie wissen / was
ihnen entgeht


foto: http://justimagine-ddoc.com/


kleiner Monolog über die Liebe

Schnapsidee das.  Entpuppt sich oft als Schall und Rauch. Verpufft. Übrig bleibt rein gar nichts. - Puff! 
Sei leise. Du musst schon die Ohren spitzen, um es zu hören. Puff, puff!

Und, was hast du dir dabei gedacht? Nichts? Gar nichts, nur gefühlt, sagst du?
Bauchgefühl. Schnapsidee. Schall und Rauch. Fällt dir sonst noch was dazu ein?
Dein linkes Schulterblatt? Darunter hockt alles, sagst du? Ein Versteck? Unterm Schulterblatt? Ha!

Du bist wahrscheinlich die einzige, deren Gefühle sich unterm linken Schulterblatt verbergen. Sie gehören doch in diesen roten, pochenden Muskel. Ach – stimmt, der ist auch links. Unterm Schulterblatt irgendwo. Also doch das linke Schulterblatt. Komisch, das mit links.

Alles mit links. Auch die Liebe. Bis sie verpufft.
Oder einfach bleibt -  links, wo das Herz ist.

hörversion

mikrokosmos

ich wünschte mir
der kosmos passte in eine schneekugel

ich könnte ihn auf den kopf stellen
und es so lange schneien lassen
bis er nicht mehr schwarz und bodenlos wäre
sondern weiß und volltrunken

ich höre ihn schon kichern

auf wolke 9

hat man alle hände voll zu tun
[lebt sich's drunter und drüber]
wie in einem taubenschlag
geben sich die turteltäubchen
die klinke in die hand
… hast du nicht gesehn! …
kaum hier schwupp fort

im 7.  himmel
hingegen
[ist er drunter oder drüber?]
ist es zum gähnen glatthäutig
streichelzart großäugig
zahm die schläfrigen rehe
hinter straffem maschendraht

foto: www.picturepilot.de

gewiss

sanft sind die lippen des fremden
streifend über gräserland
hungrig die hügel die
sich an den himmel schmiegen
und ihn liebkosen

gestern vorbei
sicher ist heute
morgen sei

www.picturepilot.de

schwebeteilchen

dem liebsten der geht
blickt man lang hinterher
eh man sich versieht
ist sein umriss verweht

den gefühlen die ziehen
denkt man ewig nach
bis ans ende vom tag
kann man kaum entfliehen

den herzen die fallen
schickt man flügelworte
die sie sinkend schon
in der schwebe halten

schwebeteilchen I, 2012

abtauchen

deinen Atem zieh ich
mir über
wie einen Hut mit
breiter Krempe
zum Schutz
gegen das drängende
Flüstern der Nacht

deinen Atem leg ich
mir um
wie den wollenen Umhang
des Schäfers mit den goldnen Augen
in denen ich
versinke
ohne zu ertrinken

dein Atem
fächelt die Wellen meiner Träume
gestaltlos
ans Morgenland

gefährdet

ein Fahrrad
ein Schirm
eine Tasche
verlassen / nur ein Baum
als Stütze

den Mund voller Scherben
im Finstern
auf spiegelnder Straße
allein / nur ein Traum
als Stütze

du und ich
zusammen wir beide
locker verwoben
zu zweien / nur ein Kaum
als Stütze

aufräumen ausräumen austräumen

die guten ins kröpfchen
die schlechten ins töpfchen

das lachen aus der kehle
die tränen aus der seele

die suppe auf den teller
die kohlen in den keller

die lügen aus der tasche
den phönix aus der asche

und immer dran denken
auch andern was schenken

hörversion "aufräumen"

ich weiß nicht

ich weiß nicht was
soll es bedeuten dass ich
jetzt traurig bin /
du bist doch an meiner
Seite und fröhlich
war uns der Sinn

ich frag mich was
soll es bedeuten dass ich
so traurig bin /
ich laufe an deiner
Seite doch quält mich
die Frage wohin

wir gehen zusammen
die Straße und haben
kein richtiges Ziel /
du magst mich
ich mag dich das sollt uns
genügen das ist doch
schon viel

ich frag dich was
soll es bedeuten dass ich
so traurig bin /
du gehst einfach neben mir
weiter und gibst unsrem
Laufen den Sinn

(sehr frei nach Heinrich Heine)

herzbrücke

unter der herzbrücke
tuscheln die wellen. drüben
katzengesang

katzengesang

optimist

 
ohne zweifel

unser wir
wird
wachsen


wie ein vogel

oben schaukeln
allen ein zwitschern
zuwerfen
den liebsten immer in rufnähe
wissen dass antwort kommt
jederzeit
dem alten bussard zulächeln
ohne die deckung
aufzugeben
am abend den kopf
einfach
unter die flügel


„Seht die Vögel des Himmels an: Sie säen nicht und ernten nicht, sie sammeln auch nicht in die Scheunen, und euer himmlischer Vater ernährt sie doch. Seid ihr nicht viel mehr wert als sie? Wer aber von euch kann durch sein Sorgen zu seiner Lebenslänge eine einzige Elle hinzusetzen?“
(Matthäus 6, 26-27)

liebesgedicht

du
perlend / leichter regen
stetig im leisen licht / feiner noch
film auf meiner haut / glatter noch
feder im gleitflug / flieg mich
doch frei

du
streifend / flüchtiger atem
stetig im leisen licht / kühler noch
hauch auf meiner stirn / weh noch
wind aus wüstenland / treib mich
nicht fort

du
berührend / tastende lippen
stetig im leisen licht / zarter noch
hand auf meinem haar / leichter noch
liebesgedicht / halt mich
an dir

ohne Titel

ein Morgen
wie jeder andere
aufwachen schon vor
dem Klingeln des Weckers
auf die Routine des Morgens
wie immer ohne nachzudenken
aufspringen die Rädchen
zum Schnurren bringen wie eine
Katze die Morgenmilch
aus der immer gleichen
Schale schlürfen abends schon
bereit gestellt dein Leben morgens
in die immer gleiche Tasche
packen darin ein Zettel
unbekannt darauf drei Worte
finden entziffern
und alles auf ein Mal

ganz anders

vom Leben

I

Es gibt keinen Grund
das Leben zu beschneiden
Die buntesten Blüten
blühen im Urwald

Es gibt keinen Grund
das Leben zu begradigen
An ungezähmten Ufern liebt
es sich am schönsten

Es gibt keinen Grund
das Leben zu bändigen
Nur in Freiheit schenkt es dir
deinen wildesten Schrei


II

Hab keine Angst
mein Kind
Nichts bleibt bestehn
Hab keine Angst
Der Wind
jagt vorbei
Der Regen
wäscht neu
Die Sonne
baut weiter
bunte Himmelsbögen

der schwarze mann

ich werd ganz sicher
nicht davonlaufen ganz sicher
nicht
wenn ich dem schwarzen mann begegne
dann werd ich stehn bleiben
und werd ihn anstaunen
wenn er seinen mantel öffnet
werd ich die augen nicht schließen
sondern werd sehen was zu sehen ist
nicht was ihr denkt
er hat drunter einen braunen sack
voll mit nüssen frisch aufgelesen
und sein mantelfutter ist grün
nicht schwarz wie ihr denkt
und sein mund ist groß und rot
unterm bart er lacht
herzhaft
nicht wie ihr denkt
und aus seinen blauen augen
rollen echte tränen genau solche
wie ihr sie weint
große runde salzige
menschentränen
die fließen in den bach
dann in den fluss dann
ins weite graue meer

Altweibersommer

ich lass mich treiben
in den Herbst
die Wolkenkähne segeln
mir voran
am Boden tragen Nüsse
schon den warmen Mantel
vergoren duften
die gefallenen Früchte
ein Schrei des Habichts
und ich weiß die Tage
stehlen sich davon
ganz leis
ich seh nur noch den
Zipfel ihres Blütenkleids
ich greif danach
und halt ihn
in der Hand nur kurz
dann reißt
der leichte Stoff des Sommers
und Fäden hab ich
in der Hand
Altweiberhaare
weiß

Hörversion: Altweibersommer 

drei Dreizeiler

Morning has broken
wings. Der Reiher breitet
seine Flügel aus.

.

Auf der Landstraße.
Ein Mistkäfer stolpert.
Niemand hält an.

.

Kein Futter mehr.
Die Ziegen meckern.
Der Abendhimmel errötet.

wie bei janosch -

in der guten stube

das herz, es pocht
und breitet seine flügel
türen auf, herein

trittst du, ich bin
schon da, wir machen es
uns ganz gemütlich

bei gänsewein und kuchen
spielen wir das frisch
verliebte paar

zeichnung: jeannette frei

Herbst 2012

Wäre ich frei
Und wüsste, dass auch du
Frei bist, dann wollte ich uns
Auf der Zunge zergehen lassen
Wollte ich Süßes und Salziges
Saueres und Bitteres
Schmecken

Alles wäre mir
Recht, ich äße den Teller
Leer wie in Kindertagen
Und wäre gewiss, dass
Es Sonnenschein gäbe

So aber
Wage ich nur
Zu naschen
Von unsrem Teller

Und ich sehe die Wolken
Aufziehen

hasenherz

drei herzen
wohnen [ach!]
in meiner brust

das eine
schlägt mir bis zum hals

das andere
rutscht mir in die hose

das dritte
öffnet seine fensterläden
weit
für dich

freestyle

zeichnung: jeannette frei

ich / mit dir
mitten
in meinem herzen

ich / mit mir
allein
im innern ring

western dream – für m.

staubige pisten
verwehn
flirrender traum
singender sturm treibt
töchter des monds
herden ziehn mit dem wind
wirbelnder saum
bricht sich
im blau deiner seen

Hörversion: western dream 

himmelssupp

am himmel lauter
weiße riebele
wie in einer blauen himmelssupp
und quer durch schwimmt
der flieger, wohin?
nach berlin, nach wien
hauptsach irgend-
wohin

* riebele sind geriebene, krümelige suppennudeln

Weibs-Bilder IV

Ich sehe sie liegen und wünsche mir, an ihrer Stelle zu sein. Sie ist hingegossen auf den winzigen Strand, voll bekleidet, aber ausgebreitet wie ein offenes Buch. Ich lese in ihr. Ich spüre die Dünen und Senken des Sands, die Wärme des Bodens, den Druck eines winzigen Steins am Schulterblatt. Die Erde hält mich in der Schwebe, sie schaukelt mich träge durch die Stunden.
.

Christopher Street Day vorbei: Sie hockt auf einem Steinpfosten, ihre Hände nesteln die Schnürsenkel der kniehohen Lackstiefel auf. Die sind bonbonrosa und spiegeln im Abendlicht. Sie ist ein Er. Er ist eine Sie. Der Lippenstift ist verschmiert, sie haben bis eben gespielt, dann ist der Vorhang plötzlich gefallen, und das Publikum hat sich auf den Heimweg gemacht. 
.

Sie trägt ihr schrillstes T-Shirt. Das soll den schwarzen Schnitter blenden. Er darf nicht merken, wie es in ihr drin aussieht, wie todmüde ihre Knochen oft sind, wie es in ihrem Gebälk knarrt. Ihr bestes Stück ist der Rollator, der begleitet sie überall hin. Sie sind ein Paar. Er hängt sich manchmal am Bordstein auf, dann muss sie ihn befreien. Er ist unsterblich. So gut wie.



der Käfig

ich rüttle an den Stäben
der Zweifel
kratze an den Mauern
der Trägheit
singe an gegen die Angst

Rehherz springt

wo Gedanken sich
in Träume verkleiden, wo
der Tag sich reibt an der Nacht
und der Falter in der Flamme
zischend vergeht

Vogelherz fliegt

wo sich die Wolken
in den Abend jagen, wo
der Tag sich neigt vor der Nacht
und die Sterne den Mond
umringen

Menschenherz sinkt
müd
in deine offene Hand




Prinz

 




















ich trage dich
in meinen Wimpern
auf meine Stirn geschrieben
zwischen den Rippen
auf Händen trag ich dich
und meine Füße tragen
dich und mich

auf meiner Zunge
bist du mir
ein Goldstück
an meinem Ohr
eine roher Diamant
in meinem Herzen
hockst du
märchengrün

ich trag dich immer
bei mir mit mir in mir
selbst wenn du manchmal
wie ein Stein
so schwer mir
fällst

Foto: Isabella Kramer

Sehnsucht

verwischt dir die rasende Landschaft
behält das Rot des Mohns fest im Blick

siebt den groben Kies aus den Stunden
schenkt dir den feinen Film für die Nacht

lässt dich im Traum ein Nest bauen
befiehlt dir morgens Segel zu setzen

filtert den schwarzen Schrei der Herbstkrähe 
aus den ersten Tönen des anbrechenden Tags

treibt ihren Bass wummernd
unter deinen Herzschlag 
-
herbgoldner Honig in deinen Waben
sonnenverliebt




jene 
kleine blaue blume
sie treibt immer wieder
blüten 




Weibs-Bilder III

Sie ist ihm zugeneigt, unbedingt und jeden Morgen. Sie sitzen in der U-Bahn nebeneinander. Sie liest in seiner Zeitung mit. Sie flüstert ihm etwas ins Ohr. Sie greift nach seiner Hand. Sie wendet sich ihm zu und reibt ihre Nasenspitze an der seinen. Zärtlich. Die Nasen werden von Jahr zu Jahr größer und knochiger. Sie fahren Jahr um Jahr zur gleichen Zeit gemeinsam zur Arbeit. Sie sitzen Jahr um Jahr nebeneinander, spiegeln sich im Auge wechselnder Gegenüber. 

.

Wer hat Angst vor Virginia Woolf? - Sie sitzt mitten unter uns. Trägt Schwarz mit weißer Haut und roten Lippen, hält eine Zigarette zwischen den Fingern. Blaue Augen stechen ins Unergründliche. Blauer Rauch steigt ins Unermessliche. Die Kreuzigung der schlanken Knöchel unterm Biertisch ist vom Feinsten.

.

Auf schattigem Parkweg eine gertenschlanke Gestalt: wild geblümte Vorhut. Verfolgt von einem Windspiel, das nachhinkt, immer wieder verführt von den Düften am Wegrand. Sie ist schon lange unterwegs, sicher weit über achtzig Jahre. Knöchelhohe rote Stoffturnschuhe zieren ihre mädchenhaften Füße. - Hinter den Büschen winkt das Ziel, eine exklusive Altenwohnanlage.

kleines Abseits

.


Ein Rosenbäumchen
inmitten von Brennnesseln.
Rühr mich nicht an!

.

in meinem Blick

ich trage dich
in meinem Blick
verschwommene Konturen die
mich still begleiten
in all den Jahren Schatten
in meinen Augenwinkeln die
geduldig warten um
irgendwann
zu tanzen Formen
anzunehmen die ich
bemale Rot und Gold
und schließlich
Schwarz

ein guter Morgen

eine warme Hand in meiner, ihr Druck überraschend fest
[ich gehöre einem Heimatlosen]

eine Stimme an meinem Ohr, noch vom Traum besänftigt
[ich gehöre einem Herzbesetzer]

das Flattern eines winzigen Schmetterlings
gefangen zwischen den Bögen meiner Rippen
[es gehört mir]

der See träumt sich
















I
der See träumt sich
mit immer neuen Spiegeln
befragt er / seine Bilder
verfliegen
himmelwärts

II
der See träumt sich
gebeugt über seinen Spiegel
befragen wir / unsre Bilder
versinken 
grundlos

Andrea Zaumseil, Der See träumt sich
.
mir
mitte sein
 konzentrische kreise treiben
bleibt mitte
mir
.

unterwegs II

noch immer
Straßen alt und bucklig / Gras
in den Ritzen Löwenzahn / im Rinnstein
Regen

Stützen / selbst schon
gebrechlich / immer noch
nicht wissend wie / Zusammenbruch
verhindernd

ich / auf dem Rücken
treibend / ein glücklicher
Delfin / in fremden
Straßen

unterwegs I

unterwegs mit dir
schließen sich die Wunden
meiner Orte, heilen

der Stein, das Holz
sie atmen wieder, wie früher
öffnen sich die Poren
für Wunder, die
zu unsren Füßen liegend
danach gieren
von unsren Händen
gehalten und
liebkost zu werden

unterwegs

wenn du mich flüchtig berührst
fließt Strom unter meiner Haut
bilden sich Seen die ich befahre
Bäche die ich überquere

















wenn ich dich bereise
bist du mir ein weites fremdes Land
kreuzende Pfade ohne Wegzeichen
führen ins Abseits

tief hängende Wolken
jagen

zurück auf dem rechten Weg
bin ich froh

Foto: www.picturepilot.de

Jede Frau ist eine Insel

Von mir aus, geh!, hat sie ihm zugerufen, und er ging. Sie hat nicht gesagt: Geh doch! oder: Hau doch ab! Diese Worte überlässt sie anderen. Sie hat das gerufen, was ihre Mutter  gerufen hätte. In beleidigtem Ton. Sie fühlt sich wie die eigene Mutter. Altes Holz, weggeworfen.

weiterlesen





 
mein Untergang

eine Sonnenblüte
die unendlich langsam
im Meer verwelkt



nach dir

im kreischen
rostiger torangeln
im heulen
des ungeschlachten motors
inmitten
verwundeter stille

mich aufbäumen
vor sehnsucht
nach dir


 nach dir

wo die Liebe

hinfällt
steht sie allein
nimmer auf
leicht brüchig
bleibt sie liegen
und hofft
dass einer ihr
hochhilft und zwei
sie festhalten

Hundsliebe

Wenn sich ein scharfer Schäferhund verliebt, da kann frau gar nichts machen. Da läuft er hinter der Herzdame her, verlässt Haus und Hof und ist nicht mehr zu bremsen. Er winselt überzeugend und denkt gar nicht daran, das vorbeiziehende Wandertrio zu verbellen, zu verknurren oder aufzufressen. Die Bühnenshow bleibt aus. Sämtliche Macho-Allüren verduften schlagartig, er wird weich wie Butter, singt seinen Tenor im Background-Chor. Er ist einfach nicht wiederzuerkennen.

Kaum sind wir ihn endlich los, mitten im Ort, da kommt das nächste offene Hoftor, dahinter ein Collie, ein Rüde, was sonst. Auch er verliebt sich auf der Stelle, auf den ersten Duft. Schon wieder ein männlicher Begleiter, treu wie ein Dackel. Diesmal ein stummer Genießer. Die Frontfrau ist genervt. Ihr vierfüßiger Tanz wird ein bisschen verquer, sie verliert ganz leicht die Contenance, fängt sich aber gleich wieder und trabt hoch erhobenen Hauptes geradeaus weiter über die Dorfbühne.

Und wir, das Publikum? Wir haben Weibergedanken. Nicht schwer zu erraten.

lustmord

über die unlust schreiben?

da muss doch eine schreiblust sein
damit du die unlust beschreiben kannst

mit lust über unlust schreiben?

als ob ein blinder farben beschriebe
         / ein blindversuch /
was man nicht fühlt schreibend ertasten
die unlust zum lustobjekt machen
sie umgarnen sich an ihr reiben
sie umarmen sie drücken
bis ihr die luft ausgeht
und reine lust
bleibt

Weltgeschehen

Tschernobyl strahlte noch
da wünschte ich mir
das erste Kind

das zweite wurde geboren
als die Ölfelder in Kuwait
lichterloh brannten

man erzählte mir
dass in unsrer Stadt Särge
aufgestellt seien als Protest
gegen den Krieg

ich wiegte das Kind
die Welt drehte sich
weiter

wieder Morgen

Wieder ein Morgen
Sterne Lichtstaub bedeckt
Am Ausgang der Nacht
Matt der Mond

Letztes Aufträumen
Im Rauschen der Stille
Wir noch gewiegt
Gewiegt vor dem Tag

Wieder ein Morgen
Spuren von Weiß
Über schwarzen Tasten
Himmelstuch grau
.

nachklingend
nacht
variationen

tönung
mit zartem strich
morgen

.

Vier Weibs-Bilder II

Die Königin von nebenan, das rote Haar um die Schultern gelegt wie ein Purpurmantel. Eiliges Klacken hoher Absätze verflüchtigt sich die Straße entlang in Richtung Supermarkt. Ein Duftschleier fegt den Gehsteig leer. 

.

Ein Granitblock. Sie thront im engen Gang des Supermarkts. Sie blockiert den Ausstieg im Bus. Ihre Rüstung ist glanzlos. Sie walzt jeden nieder, der nicht ausweicht. Ihr Lachen bringt mächtige Brüste zum Beben. In der Luft erste Anzeichen eines Gewitters.

.

Ihre Lippen bewegen sich pausenlos, formen unhörbare Worte. Sie wendet sich einer Begleiterin zu. Aus ihrem Mund quillt unvermittelt ein Strom fremdartiger Laute. Die Begleiterin nickt stumm. Der Wortstrom versiegt allmählich und dümpelt im Stillen endlos weiter.

.

Und SIE möchte ich zu gern beschreiben. Und kann es nicht, weil an ihr nichts Auffälliges ist. Nirgendwo kann ich meinen Haken einschlagen. Noch nicht einmal ihre schwarze Haut ist der Rede wert. Sie ruht in sich. Vollkommen.



du und ich


da bist du und
da bin ich
wir könnten es
gemeinsam schaffen
bis zum Winter

die Schwalben
der Sommer
schon wieder
werden lange Tage
langsam kürzer

da bist du und
da bin ich
wir beide könnten
uns die Hände wärmen
wenn es Herbst wird

wir könnten
unser Feuer schüren


Foto: Katrin Schäflein www.picturepilot.de

erste Erinnerung

Großmutter liegt im Bett und will nicht mehr aufstehen.

Sie liegt einfach da, so bleich, so dünn, so klein und allein, ein Vögelchen im Nest. Nur ihr Kopf ist zu sehen, und ihre Hände ruhen wie zwei wohlerzogene Kinder nebeneinander auf dem Deckbett. Dicke blaue Adern schlängeln sich über die Handrücken. Die Hände sind aus durchsichtig weißem Porzellan. Ihre Haut fühlt sich an wie hauchzartes Papier. Mein Zeigefinger schiebt die weichen  Hautfalten ein wenig hin und her. Hin und Her. Hin und her.

Großmutter hat die Augen geschlossen und atmet schwer. Die Härchen in den Nasenhöhlen bewegen sich sanft. Plötzlich röchelt sie und wacht auf. Ein zittrig-hoher Singsang schwebt aus ihrem Mund. Ihr milchiger Blick schaut über meinen Kopf hinweg in die Ferne. Ich tupfe mit dem feuchten Tuch über ihre rissigen Lippen. Großmutters durchscheinende Lider fallen wieder zu.
Unter den Augen liegen tiefe Himmelsschatten. Ihre Lippen bewegen sich stumm, als ob sie etwas suchten. Sie suchen und suchen. In meinem Kopf drehen sich tausend kleine Rädchen heiß. Meine Augen bleiben hängen an diesen hilflos tastenden Lippen. Meine Finger krabbeln in die Schürzentasche und holen den Schnuller heraus. Vorsichtig schieben sie ihn in den Spalt zwischen Großmutters Lippen. Gierig schnappt der Mund zu und saugt den Gummi schmatzend ein. Plopp, spuckt er den Schnuller wieder aus.

Ich gebe nicht auf. Hinein, heraus, hinein, heraus. 

Plötzlich reißt eine grobe Hand den Schnuller aus Großmutters Mund. Der Mund verzieht sich zu einer weinerlichen Grimasse. Die Lippen tasten unruhig weiter. 

Die Welt hält den Atem an. 
                                                Die Kuckucksuhr tickt laut. 
                                                                                                Die Welt holt wieder Luft.

Ich lande unsanft auf dem Küchentisch, und meine Augen folgen dem Flug des Schnullers durch die offene Ofentür hinein in die lodernden Flammen.

Es zischt.
Das eiserne Herdtier verschlingt ihn.
Rasend.
Goldene Funken sprühen.
Die Ofentür kracht zu.
Der Riegel rastet ein.

Über Mutters Wangen rollen lautlos die Tränen.

Jeannette Frei, Lebenstuch 2012 www.jeannettefrei.de



leben

himmlisch schön / verdammt kurz

~

life

like heaven / damned short


walking bass

voller Geigen war der Himmel
früher / heute hängt er voller
Bratschen / nimm dich in Acht
vor den Bässen / sie gehen
besonders tief unter die Haut

an das Kind

Jeannette Frei: Lebenstuch 2012 www.jeannettefrei.de



































und sollte ich dich verlieren
dich wieder finden dann
nach langer Zeit /
so wollte ich dich hüllen in
mein letztes Hemd das meiner Haut
am nächsten dich wie einen Säugling
an meine Brust geschmiegt
im Rhythmus meines Herzschlags
stillen / uns wiegen und
wir würden auferstehen

mississippi

windstille leinen
auf dem hof ein weidenkorb
und raue hände ruhen
in der hitze schoß
es brüten träg
die satten stunden
am breiten braunen fluss
der blues / südwärts
in weiten weißen feldern
schlafloser nächte sirren
fernes loses bellen
kreuzwege schmelzen
unterm buttermond
am trägen braunen fluss
der blues

crossroads blues

thinking of you

 .

I'm thinking of you ...
I'm thinking of you ...
I'm thinking of you ...

I'm thinking of you
no more



.

09.11. (Post Nr. 333)

Mein Großvater hatte am selben Tag Geburtstag wie ich.

Ich habe es eben entdeckt, rein zufällig. Ähnlich wie Kolumbus über Amerika stolperte, stolperte mein Blick in Großvaters Geburtsdatum auf unserem Familiengrabstein.
Das Datum ist darin eingemeißelt seit 38 Jahren. Ich habe das Grab regelmäßig besucht. Das gibt mir zu denken.

Ein Datum, besetzt von Geschichte und Geschichten. Viel war los am 09.11. Und unter anderem waren wir beide los, Großvater und ich. Er 66 Jahre früher, ich erst ab 55 -  Schnapszahlen! Wer von uns beiden trank Schnaps? Er natürlich.Wer zog in den Krieg und erlebte Geschichte am eigenen Leib. Auch er. Zu mir kam Geschichte nur in Form von Erzählungen.

Zu denken geben mir aber nicht die Geschichtsträchtigkeit des Datums und auch nicht die Schnapszahlen. Zu denken gibt mir meine Vergesslichkeit. Vom Schnaps rührt sie nicht her, den rühr ich nicht an.

Warum weiß ich nicht mehr, dass Großvater und ich am selben Tag Geburtstag feierten? Wusste ich es früher? Ich muss es gewusst haben. Warum weiß ich es heute nicht mehr? Wie funktioniert eine Erinnerung, ein Gedächtnis? Was behält es, was nicht, warum hat mein Gedächtnis in diesem Punkt versagt? Fand es diesen Zufall nicht merkenswert? Warum verliert mein Gedächtnis etwas, das ich für bemerkenswert halte, wenn ich es wieder finde? Bilden wir nicht eine Einheit, sind wir nicht sozusagen ein Paar? Gehören wir nicht zusammen? Macht es sich selbstständig, will es frei sein, will es mich betrügen, mich lächerlich machen, mich vorführen, mich strafen für irgend etwas, was ich jemals getan habe und auch nicht mehr weiß? Was weiß ich eigentlich von ihm, dem Gedächtnis, was weiß ich von mir? Was weiß ich von Großvater, was weiß ich überhaupt?

Ich kenne mich nicht mehr aus und nicht mehr ein. Vielleicht wäre jetzt doch ein Schnaps gut.

Hat er jemals daran gedacht, dass wir beide am selben Tag Geburtstag haben?
Ist es wirklich der selbe oder nur der gleiche Tag?

.

Einfach verschwunden.
Und selbst die Erinnerung
Welkt ins Verblassen.



Juni

Glühwürmchen im Gras -
in deinen Augen glimmt
ein Funke



Walderdbeeren

Jeannette Frei, Ausschnitte aus einem "Lebenstuch" 2012 www.jeannettefrei.de

Sommers Rosen

sachlich bleiben
fällt schwer ist fehl
am Platz im Paradies
wer wollte schon
so tun als sei er
unberührt so tun als ob
nichts sei wenn doch
die Sinne explodieren
im Rausch der Farben
schwelgen und der Düfte
wilde Fülle Mauern
zum Bröckeln bringt
die unzerstörbar
schienen fest gebaut
für alle Zeiten
jetzt aber
ihren Halt verlieren
im Ansturm
der Blüten

fast eine Widmung (2009)

Ricarda Huch, Der Fall Deruga

Das Buch, ein schmaler Band nur,
liegt irgendwie vertraut und leicht in meiner Hand.
Das grüne Leinen ist schon sehr  verschossen,
Die Frau darauf blickt weh, verträumt
dem Lesenden entgegen.

Ich schlag es auf, und den vergilbten Seiten
entströmt ein süßlicher Geruch, kaum fassbar,
ist weder Rauch, noch ein Parfüm, eher ein Duft.
In ihm sind alle Menschen, die es je gelesen,
verzeichnet, alle Räume, die es je bewohnt.

Mir fehlt die Widmung auf der ersten Seite.
Das Blatt  schreit förmlich nach den Zeilen.
Nur ganz am Ende ist etwas zu finden.
Klein und fein säuberlich geschrieben,
rechts oben in der Ecke eine Ziffer

… verführt zum Träumen.
Worte sammeln / sich in Worten
sammeln /  im Sammeln
von Worten / dich und mich
suchen / uns versuchen / in Worte
kleiden / du und ich / verkleidet
in Worten / WIR
Wortlos
nackt

Die Reise

Schreib einfach. Schreib Worte ohne Ziel. Gib schwarze Zeichen ein und warte ab, wohin die Reise geht.

Ein Reisender wirft euch in den Kofferraum. Möglich, dass er mit seinem alten Volvo nur bis Straßburg kommt statt nach Paris. Was kümmert es dich. Ist es nicht gleich und egal, ob Worte nach Straßburg oder nach Paris führen? Beides schöne Städte, beide dir lieb. In beiden warst du lange nicht mehr. Soll doch der Reisende in Straßburg stranden, mit euch als Nachtlektüre.

Wundersam. Dieser Blick auf den in der Tiefsee der Nacht  licht schwebenden Bahnhof von Straßburg. Alle Schwere fällt von euch ab. Ihr seid beschwipst.

Der nächste Morgen verwischt jeglichen Zauber. Der Reisende, deine Worte und du - ihr drei - übernächtigt auf dem zugigen Bahnsteig.  Als Vierter im Bund euer Kater, gefährlich am Rand balancierend. Der TGV tost ein, reißt euren Weltschmerz um und greift euch auf. Ab nach Paris. Da wolltest du doch hin!
In Paris lasst ihr eure Seufzer die Seine hinab segeln, ihr spult den Film weiter und sehnt hinwärts nach London, in Zukunftstunneln reisend, die ganze Last der Meere schon auf euren Schultern spürend.  Angst mischt sich leicht ins schwere Gepäck.

Schreib einfach. Ist doch unwichtig, ob deine Worte wissen, wie und wo sie landen. Hauptsache unterwegs. 


Was denkst du

Dass ich eine Spielerin bin?
Das Feuer kennt mich, das Feuer brennt mich.
Dass mein Schein trügt?
Die Nacht ist das Bett der Sterne.
Dass ich nichts mit mir anzufangen weiß?
Dabei ende ich immer bei mir allein.
Dass ich meine Ziele auf dem Weg verliere?
Die Tauben picken sie auf.
Dass ich nicht erwachsen bin?

Das Kind in mir zu nähren
Ist mein Weg

Vier Weibs-Bilder I

Die Frau auf dem Fahrrad hat die Kapuze des schwarzen Mantels weit ins Gesicht gezogen. Eine Zigarette im rechten Mundwinkel, das Handy in der linken Hand, lenkt sie mitten durch die Pfützen. Vor der roten Ampel klickt ihr Feuerzeug, und sie raucht an. Es regnet junge Hunde.

.

Zwei Frauen im Bus. Das Gesicht der Älteren voll Mitgefühl, das Gesicht der Jüngeren von Leid gezeichnet, ihre Haltung niedergeschlagen, der Blick so dunkel, so offen, so wund. Du fühlst ihren Schmerz in dir wüten. Du trägst ihn eine Station weit mit.

.

Die Frau in der ersten Reihe. Sie setzt sich in Pose, reckt ihr Kinn. Ihre Augen weiten sich. Sie holt mit Blicken und Worten zum Angriff  aus, verschießt ihre Pfeile und scharrt dabei unruhig mit gefährlich spitzen, schwarzen Hufen.

.

Morgens am Küchenfenster. Ein Scherenschnitt - ihr Profil im Gegenlicht, die typische Handhaltung einer Raucherin. Sie steigt ein in den Tag. Die Kinder schlafen.

Irgendwie

Irgendwie ist
ein haltlos verträumtes,
ein leicht hilfloses Wort.
Es trägt eine Brille ohne Rand.
Man kann es mögen
oder meiden.

Irgendwie hat
viele Geschwister:
Irgendwann, irgendwo,
irgendwer, irgendwohin.
Alle sind Optimisten -
ohne klares Ziel. 

Irgendwie ist mir
davon das Liebste.
Es will beschreiben,
lässt doch offen,
legt nicht fest,
engt nicht ein.

Irgendwie provoziert
die Frage:
Wie denn genau?
und bringt den Gefragten
in Verlegenheit.
Er hat schließlich

Irgendwie gesagt,
um sich nicht fest zu legen,
weil ihm die Worte fehlten,
auch aus Trägheit. Oder -
er wusste nicht
das Wie.

Irgendwie ist
freie Bahn für Phantasie,
abwegige Gedanken erwünscht,
Irrwege nicht ausgeschlossen
und doch ankommen.
Irgendwie.

Wagenhallen

Foto: www.jo-dethlefs
Rückschritt -
Kieselsteine knirschen
unter den Sohlen

Rotlicht -
hinter Glas tonlos schiebend
Tangopaarung

Aufbruch  -
aus den Ritzen quillt
frisches Grün

Heimweg -
ein Lächeln
begleitet dich
durchs Dunkel

http://wagenhallen.com/

Anfangs

Wenn du ihn triffst, dann ist da diese Spannung. Du stehst unter Strom, die ganze Zeit, die ihr zusammen verbringt. Es ist, als wolltest du deine Pferde daran hindern zu fliehen. Du weißt nicht, was du von ihm willst. Ob du überhaupt etwas von ihm willst. Du spürst nur den Strom durch deine Adern fließen. Die Zeit verfliegt rasend schnell. Und abends im Bett laufen deine Füße weiter, als ob es noch ein Ziel zu erreichen gälte, das Lager für die Nachtruhe noch nicht gefunden sei. Dabei liegst du längst auf deiner Matratze im Halbschlaf. Später, im Traum, schließt du das Gatter und wünschst deinen Pferden eine gute Nacht. Ihr unruhiges Scharren verfolgt dich bis ins Morgengrauen. Du erwachst mit dem Gedanken, dass du keine Pferde besitzt, ja, dass du Angst vor Pferden hast. Weil sie dir viel zu groß sind. Weil du weißt, dass du ihrer Kraft nie gewachsen wärst.

Stoßgebet

Wenn ich gläubig wäre – vielleicht bin ich es und kann es nur nicht glauben –
dann würde ich folgende Worte an ES richten :

DU

Schenk mir Einfachheit
Zwei ungeteerte Wege genügen
Den dritten lass verwildern

Schenk mir die Einsicht
Auch durch dunkle Augengläser
Meinen Weg zu erkennen

Schenk mir Weitsicht
Die eine Blume nicht übersieht
Während sie den Berg betrachtet

Schenk mir ein Lächeln in den Augen
Für den Wanderer, der mir
Begegnet

Schenk mir ein Ziel
Das ich erreichen kann
Ohne mich unterwegs zu verlieren

The summer without men

In der S-Bahn:

Frau Gegenüber liest in „The Summer Without Men“ von Siri Hustvedt. Ich werde mir dieses Buch besorgen. Der Titel reizt mich. Obwohl - einen Sommer ohne Die Anderen kann ich mir kaum vorstellen.
In welcher Jahreszeit könnte ich eher auf Männer verzichten? Im Sommer, oder im Winter? Was ist mit dem Herbst? Und jetzt, im Frühling? Nein, keinesfalls im Frühling.
Frau Gegenüber hat braune Augen, liest ohne Brille. Klappt das Buch zu, hat plötzlich eine Brille auf der Nase, schaut aus dem Fenster. Eine lange Haarsträhne verdeckt ihr rechtes Brillenglas. Sie schaut mit Links. Ich muss mich beherrschen, auf meiner Zunge liegt die Frage: „Stört Sie das Haar nicht?“
Mich stört es. Ich bin kurz davor, mir eine nicht vorhandene Haarsträhne aus dem Gesicht zu streichen. Es juckt mich in den Fingern. Ich bin kurz davor, ihr die störenden Haare von der Brille zu schieben. Ich warte auf ein Lüftchen, das Klarheit schafft. Auf einen Mann, der ihr zärtlich die Brille abnimmt und sie sanft auf die braunen Augen küsst. 
An der dritten Haltestelle, nach einer gefühlten halben Ewigkeit, endlich, streicht sie sich das Haar selbst aus dem Gesicht. In mir löst sich ein unhörbarer Seufzer. Freie Sicht. Mein Blick wandert aus, ich betrachte die vorüberfliegenden Häuser, dann die Wiesen, die Felder. Die Sonne blendet mich. Ich kneife die Augen zusammen. Ich wünsche mir eine Sonnenbrille, einen Vorhang, nein, eine Haarsträhne, die das Licht filtert, das Grelle mildert.

„Entschuldigen Sie, würden Sie mir wohl Ihre Haarsträhne kurz leihen?“

Und ich nehme ihre Strähne und ziehe sie wie einen Vorhang vor mein linkes Auge, das der Sonne zugewandt ist.

the rose

.

a rose
on my way
was a rose in my way
broken
but smelling
rosy
.

erwachen

und
vor dem tag
noch vor dem tag
gurrt eine taube
tastet ein lichtstrahl
lächelt ein frieden
wir noch gewiegt
noch gewiegt
gewiegt
vor dem tag


foto: www.picturepilot.de

Lilien

Weißt du

Dass Lilien wenn sie
Ganz klein noch
Aus der Erde ragen
Wasserköpfe tragen?
Erst erwachsen
Sind sie stolz
Und schön

fallen Angel

erste U-Bahn-Fahrt
nach dem Sturz auf die Erde

rasch den Heiligenschein
aufpoliert das Lächeln und die Locken

und gleich der erste Heiratsantrag
von einem betrunken Lallenden

sollte ihn wohl retten!

um Bedenkzeit gebeten ...

prompt ein Angebot über
hunderttausend Euro

den luftigen Schatz sorgsam
abgewogen gegen die Erdenqualen

nach reiflicher Überlegung
Höllenqualen vorgezogen
das Angebot engelsgleich abgelehnt
den Heiligenschein zusammengefaltet
und an der nächsten Haltestelle
mit wehenden Flügeln
den Wagen verlassen

nach dem Regen

später
die Ampel schrillt
von Grün auf Rot
umkreischen Autos
unsre Insel
in die Pfützen geworfenes
Licht spritzt hoch

heiser verkündet Martins Horn
das Unglück der anderen

Du und Ich unser Leben
schwänzend
in der Mitte noch
die Spitzen der Schuhe schon
heimwärts gerichtet
ein letzter
gieriger Lungenzug

das Interview

Wie würdest du gern deinen Tag verbringen?
Ich würde mich gern verlieren auf Straßen, auf Plätzen, in Parks, auf Feldern. Ich ließe mich treiben, nähme überall dort Platz, wo es mir gefiele. Bliebe, bis die innere Uhr mich weiter führte.

Wie wichtig wären dir andere Menschen an diesem Tag?
Sie zögen an mir vorbei, wären wie die Wolken am Himmel, naturgegeben, immer in Bewegung um mich herum, nicht besonders wichtig. Bis, ja bis …

Bis was passierte?
Bis ich Schönaberselten begegnen würde.

Was wäre das Besondere an dieser Begegnung?
Die Palette seines Gesichts trüge genau im Moment unsrer Begegnung die richtige Mischung aus Wehmut über die Vergänglichkeit und Freude am Sein. Es könnte eine ganz einfache, aber trotzdem kluge Mischung sein. Blau und Rot zusammen schließe ich nicht ganz aus. Der Ton der Farben sollte stimmen. Sie sollten einen guten Einklang ergeben.

Wie würdest du dich diesem Menschen gegenüber verhalten?
Meine Augen würden immer wieder zu ihm hin streunen, kurz auf ihm verweilen, zögernd, solange, bis er mein Zögern bemerkte. Schaute er mich dann fragend an, begänne ich ein kleines Gespräch. Irgendein kleines, unscheinbares Gespräch. Wir kämen ohne Mühe auf sein Leben, seine Träume, seine Wünsche. Ich hätte meine Kamera dabei. Er würde mir erlauben zu fotografieren. Das wäre meine Beute.

Wie alt wäre Schönaberselten?
Nicht mehr ganz jung, eher älter, vielleicht im Übergang zwischen zwei Lebensstufen. Ich spreche von Er, es könnte auch eine Sie sein. Ich spreche vom Menschen.

Wie oft würdest du auf Schönaberselten treffen?
Ein einziger Schönaberselten pro Tag, und ich wäre glücklich. Zwei wären schon ein Traum. Mehr – ich weiß nicht! Mehr würde ich gar nicht verkraften.

Wie würdet ihr euch schließlich verabschieden?
Das kann ich nicht sagen. Das käme auf die jeweilige Begegnung an.

Triffst du manchmal wirklich auf Schönaberselten?
Ja, nicht oft, aber es kommt vor.

Wie verhältst du dich dann?
Meine Augen streunen immer wieder zu ihm hin, verweilen, zögernd, wollen sich nicht trennen.

die Reise

Blick zurück -
in der alten Stadtmauer
das verriegelte Tor

Unterwegs -
die Augen folgen dem Tanz
der Schmetterlinge

Angekommen -
der Wind föhnt das Haar
neu in Form

Identità - der Speicher

die schwarzen Tulpen
einer Kindheit
gestrandet
unter morschen Dielen
darüber Himmel
erdabstoßend
Zeitkreise trippelnd
Taubenfüße
an frostiger Erinnerung
hauch zarte Eiskristalle
lila Lavendel und
lichtscheuer Motten Fühler
samten schoßwarm
wie deine Katze
spinnwebverhangne Schwerkraft
der schwarz-weißen Bilder
auf  blassem Celluloid
lautloses Spulen

Tarantella di Sannicandro

Gretel und Hänsel

Halt mich!
Er läuft verwirrt durch den Flur, als ich heimkomme.

weiterlesen 

mein Tätowierer

ist verliebt
in mich ganz vorsichtig
ritzt er
die feinsten Träume
in mein Hirn
auf meine Brust
sticht er mir
filigrane Blüten
um meine Fesseln
schlingt er
sein geflochtnes Band

Sie über sich I

Gärtnerin
der schwarzen Tulpen
und des Vergissmeinnicht

Knüpferin
von Herzsynapsen
Traumnetzen
und Sonnengeflechten

morgens
die Sonne im Rücken
das Gesicht zur Sonne
am Abend

den Saum der Wolken
prüfend immer
mit Aussicht auf dich

Totgeburt

ich hatte geschrieben
der Text war fertig
eben wollte ich ihn loslassen
auf die Welt bringen
da klingelte es an meiner Tür
jemand kam / etwas passierte
mein Weltbild bekam einen Sprung
und der Text passte nicht mehr
in mein Leben / war gestorben
bevor er das Licht der Welt
erblickt hatte
 .

Einklang -
Klanghölzer raufen sich
zusammen

.

Familien-Anamnese

Woran die Alten gestorben sind? Keine Ahnung, weiß ich nicht. Sie wurden einfach  älter und starben irgendwann. Der Holzfäller wurde gut über achtzig. Kann sein, dass er ganz zum Schluss bettlägerig war. Ich weiß nur noch, dass er in den letzten Jahren viel schlief. Er, der Sozi, nickte immer über der Bildzeitung ein, die Zigarre rollte aus seinem Mundwinkel, die Asche trollte aufs Papier.

Heimat

Wenn ich über Heimat schreibe, dann ist das ein kleiner Friedhof in praller Sonne, in nieselndem Regen, ungeschützt mitten am Hang mit Blick übers Tal. Der Bachlauf im Tal ist nicht besonders breit, nicht besonders wild. Es ist nur ein sanftes Wiesental am Rand von irgendwo. Die Wege sind rotsandig, die Obstbäume am Rain sind alt und knorrig und mit grünen Flechten überzogen, und die Straße, die sich durchs Tal zieht, ist eine einfache Landstraße. Das Dorf liegt da im vollen Licht, seine Geheimnisse aber bleiben bedeckt. Die Bewohner sind dir fremd geworden. Die Augen der Alten erinnern. Sie erinnern die Kühe, die Pferde, die Ziegen, die Gänse. Sie erinnern den Schmied, den Krämer, den Lehrer, den Bürgermeister und den Pfarrer. Die gibt es alle nicht mehr. Der letzte Bauer ist fort. Zum Schluss verschwand auch das Brot mitsamt dem Bäcker. Nur an einer Stelle, da liegt immer noch der Hund und bewacht die Straße. Es ist ein anderer Hund.

Das Dorf hat sich leicht geschminkt. Die alten Häuser sind farbiger geworden, es gibt neue Häuser, die Hänge hoch geklettert wie Efeu an der Mauer. Hinter den Häusern beginnt der Wald. Und hört so schnell nicht mehr auf. Er saugt dich ein und spuckt dich wieder aus, auf eine Lichtung, eine Wiese, in einen verschlafenen Weiler. Über dir kreist schweigend der Rote Milan. Der Specht zimmert ein Dach in die Stille.

Du steigst vom Friedhof weiter die Kuppe hinauf. Kannst nicht mehr aufhören zu laufen, kannst nicht mehr aufhören zu lächeln bis du ganz oben stehst. Wie feines Tuch breitet sich dein Lächeln über die Täler und Hügel.

Heimat 

wer hat Angst

nichts Einfaches
in Sicht

nur elektrisches Knistern
nicht deutbar
Geheimsprache der Geister
die sich auskichern
            [über uns?]
im Unbegreiflichen

ein Grollen?

eindeutig wäre
ein Blitzschlag aus heiterem
Himmel der
alles in anderem Licht
zeigt neu nur
einen Lidschlag kurz
glasklar

April

hell taumelnde Blüten
Halt suchend
auf Beton

und dann der Regen
was er schon lange sagen wollte
verstohlen plätschernd
schwemmt sie fort
ganz einfach
hinunter zu den übrigen
im Rinnstein
wen schert es?

der Kirschbaum
neureich
verschleudert's weiter
mit vollen Zweigen

Angstvertreib

oder
mögliche Wege eine Angst loszuwerden
.
sie in einem Schirmständer einfach vergessen
ein ehrlicher Finder wird sie dir nachtragen
.
ihr keine Nahrung mehr geben
sie wird dich auffressen
.
sie aus dem fahrenden Zug stoßen
sie wird aus der schönen Ferne grüßen lassen
.
sie so stark ans Herz drücken, dass sie erstickt
ihr Röcheln wird dich bis in die Träume verfolgen
.
auf sie pfeifen
sie wird dir nachschleichen wie ein ergebener Hund
.
sie mit Wein betäuben zur Nacht
morgens wird sie mit Kaffee vor deinem Bett stehen
.
sie hübsch verpackt deinem besten Feind schenken
beim nächsten Fest wird sie auf deinem Gabentisch liegen
.
dich mit ihr anfreunden
sie ist schon deine treueste Freundin - du weißt es nur noch nicht
gib ihr endlich einen Namen

das Spiel

unsre Weise
hält mich gefangen
bis es vorbei ist

verklungen unser Spiel
beendet unser Tanz
verblasst unsre Farben

dann singt Stille
und ich taste
blind
nach meiner alten
Melodie

Marco Beasley e L'Arpeggiata "La Carpinese"

Die Prinzen

Die beiden. Schon wieder.
Immer da, wenn ich durchs Dorf muss. Sie wittern es, wenn ich komme. Zwillingsbrüder, nicht aus einem Ei. Ich weiß nicht genau, was das bedeutet. Ich seh nur, dass sie sich nicht bis aufs Tüpfelchen gleichen. Einer ist breiter, eckiger, ungelenker,  ungestümer, seine Haare sind heller, strohiger. Er hat ein blaues und ein braunes Auge. Ich mag den Schmaleren lieber, den mit den dunkleren, feinen Haaren und den seegrünen Augen.
Klar.

Glücksschwein


.
wieder mal
richtig Schwein gehabt die Sau
rausgelassen
.

Foto: Jeannette Frei

Wege

wohin es führen wird?
ich weiß nicht
muss man immer wissen?

ineinander münden
auseinander gehen
sich wieder finden
im Sand verlaufen
parallel spuren
sich dennoch spüren

sich spüren
ohne je wieder
zu kreuzen

in bewegung

wenn nichts mehr berührt / rührt sich
nichts

wenn sich nichts rührt / berührt
nichts

sich rühren und berühren
unzertrennlich
.
frisch verliebter Wald -
am Rand des aufgewühlten Reitwegs
ein Vogeljunges
.

frühlingswüten

wollmäuse auf saharasand
nichts an seinem platz
verrückt die dinge die möbel verschoben
verworfen die vorhänge
schlangen zusammengerollt prall
voller erwartung reine machen
unter den teppich gekehrt
sätze festgebacken auf tapeten
die patina verflossener
monate jahre leben mürbe geklopft
auf dem vorplatz

große reine am kleinen horizont
endlich klare sicht

es weiter treiben
.
nichts an seinem Platz -
das Puppenhaus träumt
von alten Zeiten
.

Himmelssystem

im Frühling

bin ich selbst
mir nicht genug
brauch ich Planeten die
mich still umringen
und eine scheue Sonne die
nur mich bescheint
nehm als Geliebten mir
den jungen Mond und stehl
vom Himmelsbaum mir
Zwillings-Sterne
im Frühling kreise ich
nicht gern allein