Neues von Erna - und wieder passiert nichts

 Erna zieht sich einen Stuhl ans Küchenfenster.
Der halbe Mond hängt überm Dach des Nachbarhauses. Ein Blinzler. Sie zwinkert zurück. Der weiß alles vom Leben, hat die ganze Welt im Auge. Jede Nacht.

Der weiß, wer mit dem Fuß nach der gefräßigen Mülltonne tritt. Der sieht die Autoantennen-Umknicker. Und den Verrückten, der immer brüllend um vier Uhr durch die Straßen heimwärts zieht, den kennt er auch. Armes Schwein. Der Verrückte. Und der Mond auch. Er kann nicht wegsehen.

Sie blinzelt hoch, der Mond zwinkert zurück. Da kommt ein Wölkchen geritten, das reitet mitten übers Mondgesicht, streicht dem Mond um den Bart. Er lächelt ihm zu.

Erna schickt ein hohoho die Himmelsleiter hoch bis zum Mond.

Dann macht sie einen Schwanenhals, damit sie den Hinterhof ins Visier bekommt. Nur Himmel gucken ist langweilig. Die Nachbarn sind das wirklich Interessante. Die meisten kennt sie nicht mehr. Fliegensterben. Heute der Notarzt, morgen der Leichenwagen. Dann die Waisenkinder, die die Mülltonnen voll stopfen mit altem Kram. Dann die Handwerker, die Unruhe und Dreck verbreiten. Dann neue Leute, die Erna nicht mehr kennen. 

Die wissen nicht, dass sie beobachtet werden.

Ich kenn euch, murmelt sie. Schräg rechts leuchtet ein Küchenfenster auf. Sie schickt den Gruß der englischen Königin hinüber.

Die kennt sie auch. Nein, nicht die Königin ... sondern die von schräg rechts. Ist jung und wohnt Tür an Tür mit Erna. Wollte vorgestern Milch borgen. Milch …  Erna hat schon lange keine Milch mehr. Seit Carlo tot ist, ist es aus mit der Milch.

Sie fühlt ihn um die Waden streichen. Sein struppiges Fell kitzelt, und ihre Strümpfe laden sich elektrisch auf. Sie steht unter Strom bis in die Haarspitzen. Der Schmusekater, der fette schwarze. Zum Schluss war er nur noch ein Nervenbündel. Dann kam er nachts nicht mehr heim. Hatte wohl eine jüngere, hübschere gefunden als Erna. Carlo, dieser alte Sack.

Lieber flucht sie, als sich vorzustellen, dass er plattgemacht auf der Straße liegt.

Alter Sack. Hätte doch bleiben können. Hatte es gut hier. Immer Milch in der Schüssel. Gestern hat sie Milch gekauft. Falls die Junge wieder klingelt. Die Milch wird jetzt sauer.

Die Mäuse, die er mitbrachte von seinen Sauftouren, flitzten wie die Teufel durch die Küche. Über Ernas Füße drüber. Hast du nicht gesehn. Sie sieht ihre Geisterschatten noch huschen. Mäusegeister, Plagegeister, suchen ihren Meister.
Aber der ist fort. Carlo ...
Erna seufzt den Mond an.

Das Leben besinnt sich lange, bevor es weitergeht.

Zeichnung: Jeannette Frei

3 Kommentare:

Michael P. hat gesagt…

Herrgott, wie habe ich sie vermisst, die Gute...

Ganz großer Sport, meine liebe.
Von Anfang bis Ende schön - und der Schlusssatz wird mich den Rest des Tages beschäftigen.

(Schlusssatz mit drei "s" - ich hasse die Rechtschreibreform)

Ein Lächeln von M. zu M.

herbst.zeitlosen hat gesagt…

Erna freut sich auch, dass sie wieder da ist. LG M.

Blumenfreund hat gesagt…

Eine Geschichte, die nachdenklich macht. Man spürt die Einsamkeint von Erna. Beim lesen bekommt man Angst vor dem Alter.

Gruß
Christine