Mein lila Onkel - die dritte

Ich hab so viel vergessen. Vieles wusste ich nie und muss es mir neu erfinden.

Ich weiß zum Beispiel nicht, wie mein lila Onkel seine Frau kennenlernte.
Es war doch alles so wirr damals.
Es war ein schreckliches Gewusel und Gewurstel nach dem Krieg. Alle irrten umher, suchten sich, fanden sich nicht, fanden was anderes, als sie gesucht hatten.  Vielleicht war das der Grund, warum ein unterfränkisches Landei über eine nordische Deern von der Waterkant stolpern konnte. Vielleicht hätten sie sich nie kennengelernt, wenn es nicht dieses entsetzliche Chaos gegeben hätte. 

Und mein Onkel war etwas Besonderes. Nicht jeder ist schließlich lila im Gesicht. Da schaut man doch genauer hin, da will man doch wissen, was sich dahinter verbirgt. Ob dieser Mann genauso ist wie alle anderen, oder ob er in sich ein kleines Geheimnis trägt. Nichts reizt die Frauen mehr als ein kleines Geheimnis im Mann.

Da merkt vielleicht der in den Trümmern von Hamburg umher irrende Mann, dass er ein wenig länger angesehen wird und lächelt. Zwei Blicke treffen sich, kreuzen sich, kurz nur, kurz, huschen dann weiter durch die Häusergerippe. Verhuschte Blicke, die sich in den Trümmern versteckten, gab es damals viele. Der Krieg hatte ein solches Elend hinterlassen. Verkrüppelte, gebrandmarkte, gestörte Seelen. Die Stadt muss ein einziges Huschen gewesen sein. An nichts konnte man sich festhalten. Alles war kaputt, drinnen und draußen. Auch die Ratten huschten.

Da ist sie vorbei gehuscht mit ihrem Blick, meine zukünftige Tante, und hat nicht auf die Löcher im Boden geachtet, der keine Straße mehr war, nicht einmal mehr ein Weg, nur ein Geröllfeld. Plötzlich brach der Absatz von ihrem besten Vorkriegsschuh. Der Fuß knickte um, die Tränen schossen ein, sie humpelte weiter wie aufgezogen. Der Krieg war nichts gegen diesen Schmerz. Aber es musste doch weitergehen. Nur nicht nachlassen. Es musste weitergehen.

Schließlich ging es nicht mehr. Sie musste sich auf einen Stein setzen, mitten in die pralle Mittagssonne. Ihre Hand strich verloren über den Knöchel, der innerhalb kürzester Zeit heftig angeschwollen war. Da half auch der beste, schon tausendfach geflickte Vorkriegsstrumpf nichts mehr.

Da stand er plötzlich über ihr, verdeckte die Sonne, gab Schatten, wo er am nötigsten war. Und sein lila Gesicht war dunkel, voll Geheimnis.

„Kann ich irgendwie helfen?“, fragte er.

Das „irgendwie“ ist immens wichtig in diesem Satz. Denn er fragte auf Fränkisch. Und jeder, der das Fränkische kennt, weiß, was ich meine. Es ist ein Schock für jedes Nordlicht, einen Franken zum ersten Mal sprechen zu hören. 

Dieses fassungslos Weiche des Unterfränkischen. Wie ein zu weit geratener Sackpullover kommt es daher, dabei liebenswürdig und mit einer gewissen Offenheit,  begleitet vom  unnachahmlich rollenden Rrrrrrr. Keiner kann es so schön rollen wie die Franken. 

Leider war in dieser ersten Frage kein R, es gab nur das irgendwie, keinen Halt und kein Halten. Die Deern musste den weiten Sackpullover anziehen. Und das war's wohl. Einen solchen warmen Sackpullover konnte jede Deern in diesen kalten Zeiten gut gebrauchen.

So könnte es sich abgespielt haben. Aber die Frage, wie mein Onkel nach Hamburg geriet, ist damit noch lange nicht beantwortet.

Für Interessierte eine kleine Probe des Fränkischen, in der nur das irgendwie fehlt.
Falls eine Übersetzung gewünscht wird, einfach melden.

„Der Franke als solcher dudd sich arch schwer, ercherdwos Gscheids über die Wurzeln seiner Schbrach (oder Schbroch oder Schbrooch) zu erfahren. Des is scho deshalb so, weil die Ursprünge des Fränggischn während des Zeitenlaufs ercherdswo und ercherdswann im Nebel zwischen Rhön, Fichtlgebirch und Altmühltal verschwunden sind.“ (Ulrich Rach: Ja da schau her: A himmlischer Dialeggd. In: NN, 7. Dezember 2007)

7 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Schönes Schlaglicht – auch, wenn es nur phantasiert ist.

(Oh - Deinen Archiv-Button sah ich grad eben erst. Interessant!)

herbst.zeitlosen hat gesagt…

freu mich, von dir zu hören, Emil. Grüße nach drüben

Blumenfreund hat gesagt…

also das heißt: irchndwos, irchndwua und irchndwenn :-))
Ihr könnt das nicht so gut aber schön geschrieben, war es echt so??

Sonntagsgrüße
Christine

herbst.zeitlosen hat gesagt…

hallo christine, ich hab auf deine fränkische rückmeldung gewartet. es ist halt so, dass das fränkische unterschiedlich kommt zwischen Rhön, Fichtlgebirch und Altmühltal, und mir ist es leider fast ganz abhanden gekommen. rudi hat sicher eher deine version gesprochen.
es war nicht so ... aber ich kreise darum, auch das in verschiedenen versionen. alles war und ist möglich :o)
schönen sonntag auch an e. von
monika

Dies und Das vom Neckarstrand hat gesagt…

Liebe Monika,
eine packende, traurig-lustige Geschichte. Ja so war es damals. Da gerieten die Menschen der verschiedenen Landstriche durcheinander.
Fränisch ist schon schwer zu vertehen - nur mit viel Mühe und viel Liebe kann man sich Brocken dieser Sprache angewöhnen. Ich weiss, wovon ich rede.
Einen lieben Sonntagsgruß schickt Dir
Irmi

Elsa Rieger hat gesagt…

Liebe Monika,

ich mag deine Prosa so gern!

LIebe Sonntagsgrüße
ELsa

Anonym hat gesagt…

Vielleicht war das so mit Deinem Onkel und seiner Frau -
oder auch ein wenig anders -
aber bestimmt so ähnlich
;-)

Gruß
Barbara