09.11. (Post Nr. 333)

Mein Großvater hatte am selben Tag Geburtstag wie ich.

Ich habe es eben entdeckt, rein zufällig. Ähnlich wie Kolumbus über Amerika stolperte, stolperte mein Blick in Großvaters Geburtsdatum auf unserem Familiengrabstein.
Das Datum ist darin eingemeißelt seit 38 Jahren. Ich habe das Grab regelmäßig besucht. Das gibt mir zu denken.

Ein Datum, besetzt von Geschichte und Geschichten. Viel war los am 09.11. Und unter anderem waren wir beide los, Großvater und ich. Er 66 Jahre früher, ich erst ab 55 -  Schnapszahlen! Wer von uns beiden trank Schnaps? Er natürlich.Wer zog in den Krieg und erlebte Geschichte am eigenen Leib. Auch er. Zu mir kam Geschichte nur in Form von Erzählungen.

Zu denken geben mir aber nicht die Geschichtsträchtigkeit des Datums und auch nicht die Schnapszahlen. Zu denken gibt mir meine Vergesslichkeit. Vom Schnaps rührt sie nicht her, den rühr ich nicht an.

Warum weiß ich nicht mehr, dass Großvater und ich am selben Tag Geburtstag feierten? Wusste ich es früher? Ich muss es gewusst haben. Warum weiß ich es heute nicht mehr? Wie funktioniert eine Erinnerung, ein Gedächtnis? Was behält es, was nicht, warum hat mein Gedächtnis in diesem Punkt versagt? Fand es diesen Zufall nicht merkenswert? Warum verliert mein Gedächtnis etwas, das ich für bemerkenswert halte, wenn ich es wieder finde? Bilden wir nicht eine Einheit, sind wir nicht sozusagen ein Paar? Gehören wir nicht zusammen? Macht es sich selbstständig, will es frei sein, will es mich betrügen, mich lächerlich machen, mich vorführen, mich strafen für irgend etwas, was ich jemals getan habe und auch nicht mehr weiß? Was weiß ich eigentlich von ihm, dem Gedächtnis, was weiß ich von mir? Was weiß ich von Großvater, was weiß ich überhaupt?

Ich kenne mich nicht mehr aus und nicht mehr ein. Vielleicht wäre jetzt doch ein Schnaps gut.

Hat er jemals daran gedacht, dass wir beide am selben Tag Geburtstag haben?
Ist es wirklich der selbe oder nur der gleiche Tag?

.

Einfach verschwunden.
Und selbst die Erinnerung
Welkt ins Verblassen.

4 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

... so viele Fragen, Gedanken, Denkanstöße,

ich danke dir!

Ein lieber Gruß,
Ramona

herbst.zeitlosen hat gesagt…

ja, viele Fragen, die Erinnerung betreffend. Schockierend schwarze Löcher manchmal, in die man plötzlich hineingezogen wird. Vertrauen-erschütternd, Selbstvertrauen-erschütternd.

Danke für deinen Besuch, Ramona

Anonym hat gesagt…

Vielleicht hast Du unbewusst beschlossen, seinen Geburtstag zu vergessen, weil Du Dich besonders gut mit ihm verstanden hast und alles war stimmig.
Dein Gedächtnis hat beschlossen - alles OK - also abgehakt, habe genug anderes, was ich mir merken muss.

Also Proust. Trinken wir ein Gläschen auf unsere Großväter.

Gruß
Barbara

herbst.zeitlosen hat gesagt…

Prost auf Proust ;o)