erste Erinnerung

Großmutter liegt im Bett und will nicht mehr aufstehen.

Sie liegt einfach da, so bleich, so dünn, so klein und allein, ein Vögelchen im Nest. Nur ihr Kopf ist zu sehen, und ihre Hände ruhen wie zwei wohlerzogene Kinder nebeneinander auf dem Deckbett. Dicke blaue Adern schlängeln sich über die Handrücken. Die Hände sind aus durchsichtig weißem Porzellan. Ihre Haut fühlt sich an wie hauchzartes Papier. Mein Zeigefinger schiebt die weichen  Hautfalten ein wenig hin und her. Hin und Her. Hin und her.

Großmutter hat die Augen geschlossen und atmet schwer. Die Härchen in den Nasenhöhlen bewegen sich sanft. Plötzlich röchelt sie und wacht auf. Ein zittrig-hoher Singsang schwebt aus ihrem Mund. Ihr milchiger Blick schaut über meinen Kopf hinweg in die Ferne. Ich tupfe mit dem feuchten Tuch über ihre rissigen Lippen. Großmutters durchscheinende Lider fallen wieder zu.
Unter den Augen liegen tiefe Himmelsschatten. Ihre Lippen bewegen sich stumm, als ob sie etwas suchten. Sie suchen und suchen. In meinem Kopf drehen sich tausend kleine Rädchen heiß. Meine Augen bleiben hängen an diesen hilflos tastenden Lippen. Meine Finger krabbeln in die Schürzentasche und holen den Schnuller heraus. Vorsichtig schieben sie ihn in den Spalt zwischen Großmutters Lippen. Gierig schnappt der Mund zu und saugt den Gummi schmatzend ein. Plopp, spuckt er den Schnuller wieder aus.

Ich gebe nicht auf. Hinein, heraus, hinein, heraus. 

Plötzlich reißt eine grobe Hand den Schnuller aus Großmutters Mund. Der Mund verzieht sich zu einer weinerlichen Grimasse. Die Lippen tasten unruhig weiter. 

Die Welt hält den Atem an. 
                                                Die Kuckucksuhr tickt laut. 
                                                                                                Die Welt holt wieder Luft.

Ich lande unsanft auf dem Küchentisch, und meine Augen folgen dem Flug des Schnullers durch die offene Ofentür hinein in die lodernden Flammen.

Es zischt.
Das eiserne Herdtier verschlingt ihn.
Rasend.
Goldene Funken sprühen.
Die Ofentür kracht zu.
Der Riegel rastet ein.

Über Mutters Wangen rollen lautlos die Tränen.

Jeannette Frei, Lebenstuch 2012 www.jeannettefrei.de

4 Kommentare:

Herr Oter hat gesagt…

Das Kind beobachtet genau, aber die gesamte Bedeutung wird erst in der Rückschau vollends erkennbar.
Eindrückliche Erinnerung, wunderschön beschrieben.
Ein Text der mir sehr gefällt.

Liebe Grüsse und ein schönes Wochenende
Resunad

herbst.zeitlosen hat gesagt…

Danke, Reto. Die Disteln der Kindheit werden manchmal erst spät gemäht.
Es grüßt herzlich

Anonym hat gesagt…

Das geht unter die Haut, auch unter die, die man noch nicht ganz so widerstandslos hin- und herschieben kann!
Gruß von Sonja

Elsa Rieger hat gesagt…

Was für ein feiner Text! Bin schwer begeistert, liebe Monika!

Herzlich, ELsa