Erna - Alle Jahre wieder: 2011, die Zweite

Zeichnung: Jeannette Frei
Erna ist ein verqueres altes Ding. Immer, wenn es bei anderen so richtig gemütlich wird und sie das Singen anfangen, trippelt Erna auf meinen Blog. „Morjn, Erna!“  


Alle Jahre wieder – 2011, die Zweite

Draußen ist ekliger Herbst. Nein, ekliger Winter. Der Wind rauscht durch das kahle Geäst der Bäume. Ein allerletztes Blatt klammert sich verzweifelt an seinen rettenden Ast. Es ist ganz starr vor Anstrengung. Auch Erna erstarrt in der Kälte. Ihre linke Hand wandert in Richtung Manteltasche und bleibt in der Luft hängen, weil keine Manteltasche da ist. Die Rechte friert am Einkaufsbeutel fest.


Erna beschleunigt, sie ist eine Lokomotive, die rollt und rollt und rollt. Rauchwölkchen steigen auf. Die Füße rollen dampfbetrieben. Sie trippelt und rollt über den Parkplatz, auf dem nicht mehr viel los ist. Sie trippelt und rollt an den Mülleimern vom hässlichen Hochhaus vorbei. Letztes Jahr hat sie darin einen goldenen Stern gefunden. Das hat ihr Hühnerhirn, Hasenherz nicht vergessen. Zwei Mal kann man nicht solches Glück haben! Also schaut sie heute nicht hinein in die Tonne, es wird sowieso nichts Brauchbares drin sein. Aber die Mülltonne macht sie an, sie flüstert, lockt und lockt und zieht und zieht. Und Erna kann sich nicht wehren gegen den Sog der Mülltonne. Die ist wie ein schwarzes Loch, das Erna verschlingen will. Du kannst doch nicht einfach so vorbeigehen, wispert sie heiser, doch nicht am Weihnachtstag. Lüpf doch meinen Deckel, lockt sie. Nur ein klein bisschen, muss ja nicht viel sein. Und Erna bleibt stehen, und Erna lüpft den Deckel mit der Linken, nur ein kleines bisschen, einen schmalen Spalt … und drinnen ist es kohlrabenschwarz, und der Spalt haucht sie an mit seinem Todesatem.

Blöde Tonne, zischt Erna, knallt den Deckel zu, dass es nur so scheppert, und rollt und trippelt weiter. Das Ernaglück im Bauch ist längst verschwunden, als ihre Augen schließlich an dem Hund hängen bleiben.

Der Hund ist klein und schwarz und ungekämmt und hockt frierend auf einer alten Pizzaschachtel zwischen zwei fetten Geländewagen. Er winselt hoffnungslos vor sich hin, der Wind zauselt seine Löckchen.

Der Hund, der Wind, das himmlische Kind!

Dich kenn ich doch, murmelt es in Erna. Dich kenn ich doch! Bist du nicht? Gehörst du nicht? Wo ist dein Herrchen?

Der kleine Hund winselt noch jämmerlicher, seine braunen Hundeaugen fließen über vor Selbstmitleid. Und Ernas Augen füllen sich mit einer Flüssigkeit, die brennt wie Feuer und schließlich über die Ufer tritt und die Wangen hinab rollt und am Kinn zu Tropfen gefriert. Der Pulloverärmel kommt zu Hilfe. Gut, dass es ihn gibt.

Wau, sagt der Hund, und sein Stummelschwanz wackelt. Das ist internationale Hundesprache, jeder versteht sie, auch Erna, die kein Hund ist.

Komm, du Guter, komm, komm, wackelt Ernas krummer Hexenfinger und lockt und zieht an den Hundeaugen, die fast aus den Höhlen kippen, so treu sind sie. Sie folgen und folgen und ziehen den ganzen Hund hinter sich her.

Uns ist kalt, verkündet Erna, und ihr Hexenfinger lockt das schwarze Hündchen über den Parkplatz, an der Mülltonne vorbei. Erna nimmt ihre wässrigen blauen Augen fest an die Leine. Sie wollen schon wieder zum Mülltonnendeckel wandern. Lieber schaut sie dem Hündchen in die treuen braunen.

Das Hündchen ist voller Hundeglück. Der Schwanz wackelt und wackelt und hört gar nicht mehr auf. Sein Maul lacht, die Augen blitzen, die Löckchen glänzen. Der ganze Hund ist ein Hund im Glück.
 
Und Ernas krummer Rücken richtet sich auf, sie wird gefühlte zehn Zentimeter größer. Sie ist die Retterin, der Hundeengel.

Alles wird gut! Das Leben singt.

1 Kommentar:

Herr Oter hat gesagt…

Schön!
Da wird einem doch noch etwas "weihnächtlich" ums Herz ;-)

Sie können auch wunderbar erzählen, nicht nur "verdichten".

Erholsame Festtage