Spatz

Verpasst. Der Anruf kam nicht zur rechten Zeit. Ich dränge mich in die volle U-Bahn. Das Leben baumelt schwer gegen meine Hüfte. Der Boden in der Bahn ist braun versoßt, unappetitlich, übersät mit winzigen Steinen. Unter meinen Sohlen dieses unangenehm reibende Geräusch, als würden die Steinchen mit jedem Schritt grausam zermahlen. Ich sitze endlich, habe einen Platz für meine Füße gefunden, meine schwere Tasche in den Schoß gezerrt. Da hockt sie nun - wie ein müder, fetter, schwarzer Kater. Mein halbes Leben ist darin. Eins kommt zum anderen. Wie lange schon?

Ich warte nicht mehr, der Punkt ist längst überschritten.

Ich blicke hoch und falle in die grünen Augen von Spatz. Spatz, Stammgast in der Bahn, wie immer auf dem Weg zum Schwimmbad. Zierlich, hohe Stirn, feste Wangen, farbloses Haar, heute als gestiefelter Kater verkleidet.
Der Blick.
„Ein lebhaftes Kind haben Sie da“, hat sie einmal zu einer jungen Mutter gesagt. Es klang nicht freundlich. Das Kind war lebhaft. Ihr Blick war kühl.

Ich wende meine Augen ab und spüre, wie sich die ihren in meinem Gesicht gemütlich einrichten. Mein Handy spielt das Lied vom Tod. Ich fange an in meinen Besitztümern zu kramen, weiß schon, dass ich es nicht rechtzeitig schaffen werde. Meine Lesebrille ist in der Manteltasche. Statt auf die Empfangstaste des Handys zu drücken, das ich endlich gefunden habe, wühle ich die Brille heraus, halte auch sie schließlich in der Hand.
„Ihr Taschentuch ist auf den Boden gefallen." Das ist die Stimme von Spatz. 

Ich schaue auf und erhänge mich in ihrem Blick. Mein Handy klingelt immer noch in meiner Hand, ich müsste nur die grüne Taste drücken. Stattdessen bücke ich mich, hebe mein braun versoßtes Tempo auf, stopfe das triefende Etwas zurück in die Manteltasche, würge ein Danke heraus. Das Handy hat seinen Geist aufgegeben.

Mein Blick packt mit beiden Händen zu. Ihrer wendet sich zögernd, widerwillig ab.

Spatz.

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